Neues Projekt: Psychosoziale Hilfe für Asylsuchende in Schweden

„Viele Asylsuchende in Schweden leiden unter psychologischen Problemen, weil sie einfach zu viel Leid erleben mussten“, erklärt Projektkoordinatorin Jenny Gustafsson.
22.09.2016
Lundsbrunn asylum centre in Götene
Karin Ekholm/MSF
Khaldoun Al Ali, a Palestinian who fled from Damaskus, Syria, is speaking to Arabic cultural mediator xxx. His daughter Nawar Al Ali waits patiently by his side.

Angst, Unsicherheit, Gewalt, Verlust von Familienmitgliedern – Menschen auf der Flucht sind oft mit einem unerträglichen Ausmaß an Leid konfrontiert. Zur Bewältigung dieser Traumata benötigen sie entsprechende psychologischer Unterstützung. Doch wie kann ein Aufnahmeland diese Bedürfnisse abdecken, ohne das öffentliche Gesundheitssystem zu überlasten? Lösungsansätze für diese Frage zeigt ein neues Projekt von Ärzte ohne Grenzen in Götene in Südschweden, das psychologische Hilfe für Asylsuchende bietet.

Ärzte ohne Grenzen startete diese Woche ein neues Projekt in der schwedischen Gemeinde Götene, um Asylsuchende mit psychologischer Hilfe und psychosozialen Aktivitäten zu unterstützen. Zum Einsatz kommt ein innovativer und kultursensibler Ansatz, der sich vor allem auf eine frühe Intervention konzentriert. Auslöser für den Projektstart war eine Bedarfserhebung in Schweden, um die Bedürfnisse Asylsuchender in diesem Bereich festzustellen. Die Aktivitäten bauen auf ein bereits bestehendes Modell von Ärzte ohne Grenzen bei der Bereitstellung von psychologischer Hilfe in Europa auf und finden parallel zur laufenden Arbeit eines Netzwerks an Freiwilligen statt.

Normale Reaktionen auf eine abnormale Situation

„Viele Asylsuchende in Schweden leiden unter psychologischen Problemen, weil sie einfach zu viel Leid erleben mussten. In vielen Fällen mussten sie Monate oder sogar Jahre in ständiger Angst leben, bevor sie endlich in Sicherheit waren. Sie haben unsägliche Gewalt überstanden, Familienmitglieder verloren, ihr Leben auf hoher See riskiert und wurden schlussendlich hier in Europa denkbar menschenunwürdig empfangen“, so Jenny Gustafsson, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Götene. „Ihre Symptome sind völlig normale Reaktionen auf diese abnormale Situation, in der sie sich befinden, doch es gibt ganz klar Lücken im Bereich psychologischer Hilfe für sie hier in Schweden. Wir von Ärzte ohne Grenzen haben die Expertise und die Ressourcen, die nötig sind, um den Menschen die Form von Unterstützung zu geben, die sie brauchen. Deshalb haben wir beschlossen, zusätzlich neben den bereits bestehenden Gruppierungen der schwedischen Zivilgesellschaft, der lokalen Gemeinde und den Gesundheitsbehörden mit unserer Hilfe einzuspringen.“

Ärzte ohne Grenzen baut im Bereich der psychologischen Hilfe immer mehr spezialisiertes Wissen auf und bot alleine im Jahr 2015 psychosoziale Unterstützung für mehr als 220.000 Menschen weltweit an. Viele der Aktivitäten finden in denjenigen Ländern statt, aus denen Asylsuchende in Schweden ursprünglich stammen oder die sie während ihrer Flucht nach Europa passierten. Der Bedarf an psychologischer Hilfe ist unter Asylsuchenden höher als in der allgemeinen Bevölkerung – vor allem aufgrund der Traumata und der Unsicherheit, die sie durchleben mussten – doch mit der richtigen Hilfe kann diesen Bedürfnissen entsprechend begegnet werden.

Zeitlich und kulturell sensible Hilfe

Vergangenes Jahr flohen 163.000 Männer, Frauen und Kinder nach Schweden. Damit ist der Staat eines der Hauptziele für Asylsuchende in Europa, kämpft jedoch mit der Bereitstellung entsprechender psychosozialer Hilfe für die Neuankömmlinge. Eines der wichtigsten Ziele des Projekts von Ärzte ohne Grenzen in Götene ist es, aufzuzeigen, wie psychologische Hilfe für Asylsuchende – darunter auch besonders gefährdete Gruppen wie unbegleitete Minderjährige – angeboten werden kann, ohne das lokale Gesundheitssystem zu überlasten oder lange Wartezeiten für spezialisierte Hilfe zu generieren.

Das in Schweden eingesetzte Betreuungsmodel von Ärzte ohne Grenzen fokussiert auf eine möglichst frühe Intervention, das sich bereits in anderen Ländern als erfolgreich erwiesen hat. Angeboten werden sowohl Gruppengespräche aus auch individuelle Beratungseinheiten. Das Team in Götene besteht aus BeraterInnen und kulturellen VermittlerInnen, die sowohl die Sprache als auch die Kultur der Länder kennen, aus denen die Asylsuchenden fliehen mussten. Ergänzt werden die psychosozialen Aktivitäten durch den Aufbau eines Netzwerks von Freiwilligen, die Asylsuchenden helfen, weitere nötige Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen und sich innerhalb der lokalen Gemeinde mehr Zuhause zu fühlen. Das Team wird durch einen Psychologen geleitet, der dafür zuständig ist, einen etwaigen Bedarf an spezialisierter Hilfe bei den Menschen festzustellen und sie in diesem Fall an lokale psychologische Betreuungseinrichtungen zu überweisen.

Werkzeuge, um Erfahrungen zu verarbeiten

Ärzte ohne Grenzen arbeitet auf der ganzen Welt mit Flüchtlingen und MigrantInnen. Deshalb wissen wir, dass eine frühe Intervention und psychologische Erste Hilfe einen wirklichen Unterschied für das Leben der Menschen machen, die mit solch enormen Herausforderungen konfrontiert sind. Unser Team gibt den Betroffenen die Werkzeuge in die Hand, die sie brauchen, um mit ihren Erfahrungen umgehen zu können. So helfen wir den Menschen, mit ihrem neuen Leben hier in Schweden voranzukommen“, erklärt Gustafsson.

Unser neues Projekt in Götene wird bis kommenden April in enger Zusammenarbeit mit den lokalen Gesundheitsbehörden und der Schwedischen Einwanderungsbehörde durchgeführt. Ärzte ohne Grenzen arbeitet derzeit innerhalb Europas mit Asylsuchenden, Flüchtlingen und MigrantInnen in Italien, Griechenland, Serbien und Frankreich. Außerdem sind unsere Teams auf drei Such- und Rettungsschiffen im Mittelmeer im Einsatz. Unsere Teams erheben auch weiterhin den psychologischen und medizinischen Bedarf von Neuankömmlingen in Europa und werden im Anlassfall entsprechend aktiv.