Wenn die Krise Angst macht

Der Psychologe Raimund Alber gibt im Interview Tipps gegen Stress und Angst in Krisensituationen.
19.03.2020

Die Coronavirus-Krise ist für viele von uns eine noch nie dagewesene Herausforderung. Täglich hört man in unterschiedlichen Medien von neuen Verdachtsfällen, Infektionen und Todesfällen. Staatliche Behörden verhängen strenge Schutz- und Eindämmugsmaßnahmen. In Social Media verbreiten sich neben gesicherten Informationen Gerüchte und Fake News wie Lauffeuer. All das bedeutet Stress, all das kann Angst machen.

Wir haben unseren Kollegen Raimund Alber gefragt, was man in Krisenzeiten gegen Stress und Angst tun kann. Raimund ist Psychologe und arbeitet seit vier Jahren für Ärzte ohne Grenzen Österreich. Als Mental Health Activity Manager bereitet er unter anderem Kolleg:innen auf die psychologische Krisenarbeit vor. Unmittelbar nach dem Ausbruch von COVID-19 hat Raimund die regionalen Behörden in Hongkong mit einem Team von Ärzte ohne Grenzen bei der Gesundheitsaufklärung unterstützt. Nach dem Einsatz hat er sich aufgrund der geltenden Schutzmaßnahmen in Barcelona in 14-tägige Quarantäne begeben. Zeit für ein Gespräch.

Raimund Alber

Wie geht es dir, Raimund?

Mir geht es gut, ich bin bei meiner Freundin, halte mich an die Schutzmaßnahmen und fühle mich gesund.

Was genau habt ihr in Hongkong nach dem Ausbruch von COVID-19 gemacht?

Im Bereich der psychischen Gesundheit ging es in erster Linie um die Bewältigung von Ängsten und Stress in Verbindung mit COVID-19, die zunehmend belastender für die Bevölkerung wurden. Wir haben Missverständnisse aufgeklärt und Mythen entkräftet, die viel Unsicherheit verursachen. Manche Gruppen sind davon besonders betroffen. Dazu gehören z.B. ethnische Minderheiten, Migrant:innen, Asylsuchende, Straßenarbeiter:innen, Menschen mit Sehbehinderungen, ausländische Hausangestellte, Obdachlose und Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, also unterm Strich die Schutzbedürftigsten der Gesellschaft.

MSF has started an intervention for the outbreak of COVID in Hongkong
MSF

In addition to medical information and prevention measures, mental health is also an important pillar of MSF response. Raimund Alber, MSF psychologist, shares tips on how to cope with emotions caused by the outbreak with representatives of foreign domestic helpers.

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Inwiefern ist die Arbeit im aktuellen Krisenfall vergleichbar mit anderen Krisensituationen, die du erlebt hast?

In meiner psychologischen Arbeit in vielen Krisengebieten der Welt habe ich ein paar Dinge gelernt, die überall und für jeden anwendbar sind, um eine Krise besser bewältigen zu können. Es ist aber wichtig zu verstehen, dass psychologische Hilfe nicht den Zweck hat, Probleme zu lösen, sondern besser mit ihnen umgehen zu können. Wir können manchmal keinen oder nur wenig Einfluss darauf nehmen, was rund um uns herum passiert. Aber wir können beeinflussen lernen, wie wir in uns drinnen damit umgehen und wie wir darauf reagieren. Und da ist es dann egal ob es Krieg, Armut, Gewalterfahrungen, Hunger, Krankheit, oder andere extreme Belastungen sind.

"Gefühle wie Angst sind absolut normal in einer abnormalen Situation."

Das heißt, wenn ich nichts an der Situation ändern kann, muss ich mit den Gefühlen leben lernen?

Emotionen wir Ärger, Frust, Wut, Traurigkeit, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Gleichgültigkeit oder andere Gefühle sind absolut normal in einer abnormalen Situation wie jetzt gerade. Auch wenn das vielleicht zu einfach klingt, aber es ist o.k., sich im Moment so zu fühlen. Es ist auch normal, extrem gestresst zu sein, Angst zu haben, zu grübeln, sich nicht mehr konzentrieren oder nicht mehr gut schlafen zu können. Manche haben keine Lust mehr, irgendetwas zu tun, wollen sich am liebsten zu Hause einsperren, oder haben unerklärbare körperliche Beschwerden wie Kopf-, Rücken- oder Muskelschmerzen, Trägheit, Appetitlosigkeit oder auch einen gesteigerten Appetit. Manche sind sehr schnell irritiert und haben vielleicht Wutausbrüche. Und manche versuchen viele dieser Symptome mit Alkohol oder andere Drogen selbst zu behandeln. Also, es ist normal und o.k., diese Reaktionen zu haben, und viele von uns haben sie auf die eine oder andere Art und Weise. Wir sind dadurch weder Schwächlinge oder Verrückte. Wir sind normale Menschen in einer abnormalen Situation.

Kann ich mich denn überhaupt schützen gegen Stress oder Angst?   

Jeder Mensch hat nicht nur ein körperliches, sondern auch ein emotionales „Immunsystem“. Wir nennen das „Resilienz“. Das bedeutet, dass jeder von uns eine gewisse Widerstandsfähigkeit hat, mit stressvollen Erfahrungen umgehen zu können. Wie stark diese Resilienz ist, hängt von vielen Faktoren ab. Das Gute ist aber, dass wir es genauso stärken können, wie unser körperliches Immunsystem. Außerdem hängen beide Systeme sowieso stark zusammen. Wer emotional gestärkt ist, hat auch ein besseres Immunsystem. Wer total gestresst in den Urlaub geht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit genau dann krank werden.

Wie kann ich mein emotionales Immunsystem stärken?
 
Entspannung! Das klingt einfacher als es ist. Das Gegenmittel zu Stress ist nun mal Entspannung. Da gibt es viele verschieden Wege, das zu tun. Was jeder mal sofort machen kann, ist ein paar mal tief und langsam durchzuatmen. Langsames atmen hilft deshalb, weil wir dadurch unserem Körper das Signal geben, dass alles ok ist und wir nicht mehr in Alarmbereitschaft sein müssen. Wir atmen ja sonst auch nur schnell, wenn wir (weg)laufen oder körperlich schwer arbeiten. Wenn ich also ruhig dasitze und entspannt bin, sollte mein Körper auch eine ruhige Atmung haben. Wie tief und langsam atmen, ist wieder sehr individuell. Aber so ungefähr fünf Sekunden einatmen und fünf Sekunden ausatmen. Schultern entspannen und tief in den Bauch hinein. Wer Schwierigkeiten hat, sich mit der Atmung zu entspannen, probiert „Progressive Muskel Entspannung“ oder „Jacobson Entspannung“. Dafür gibt es unzählige Videos im Netz. Und es gibt noch viele mehr wie Bodyscan oder Meditation. Es ist nicht wichtig, was man macht, sondern dass man sich entscheidet irgendeine Entspannung zu machen. Wenn wir sehr gestresst sind, haben wir das Gefühl, keine Zeit für solche Dinge zu haben. Probiert einfach einmal oder zweimal am Tag 10 Minuten zu entspannen. Das sind 10 oder 20 sehr gut investierte Minuten. Wer sich entspannt, kann sich auch besser konzentrieren und findet meist bessere Lösungen für seine Probleme.

Bei der Dauerberichterstattung über das Coronavirus bleibt vermutlich vielen eher der Atem weg…
 
Abschalten! Natürlich wollen wir „up-to-date“ mit den neuesten Fakten der Krise sein. Das ist auch ok. Vielleicht könnt ihr aber probieren, wenigstens für eine gewisse Zeit den Überfluss an Information auf Pause zu schalten. Ob ich fünf Stunden am Tag Nachrichten, Eilmeldungen, Videos oder was auch immer sehe, oder nur zwei Stunden, macht keinen großen Unterschied. Mit zwei Stunden Updates weiß ich genau gleich viel wie mit fünf. Und wenn etwas Drastisches passieren würde, dann erfahren wir es sowieso. Also, nicht als erstes in der Früh nach dem Aufwachen aufs Handy schauen. Probiert es bis nach dem Frühstück hinauszuzögern. Konzentriert euch auf das Frühstück. Und probiert mit euren Familien wenigstens zu den Essenszeiten nicht über die Krise zu sprechen. Gestaltet „krisenfreie“ Zeiten und vielleicht sogar Orte. Am Küchentisch zu den Essenzeiten zum Beispiel. Redet über etwas anderes, Fröhliches. Welchen Film habt ihr zuletzt gesehen, der euch gut gefallen hat? Welches war oder ist gerade euer Lieblingslied und warum? Und ganz wichtig ist gesunder Schlaf. Für diejenigen die Schwierigkeiten beim Schlafen haben, versucht wenigstens eine Stunde vor dem Schlafen alle Handys, Fernseher, Tablets abzuschalten. Das Licht dieser Geräte scheint starken Einfluss auf uns zu haben und das Einschlafen zu erschweren. Außerdem lesen wir wahrscheinlich noch kurz vor dem Schlafen wieder etwas über die Krise, was uns dann zum Grübeln anregen könnte. Versucht vor dem Schlafen beruhigende Dinge zu tun. Lest etwas Entspanntes, hört beruhigende Musik oder Entspannungsmeditationen, habt ein schönes Gespräch mit euren Familien oder Partnern. Auch Kuscheln vor dem Einschlafen kann uns beruhigen und ist gut für unsere Beziehungen.

Was kann ich sonst noch tun, um mich bei all den strengen Schutzmaßnahmen wohler zu fühlen?
 
Gesunde Ernährung ist elementar. In stressigen Zeiten neigt unser Körper dazu, eher „schnell-brennbare“ Kohlehydrate oder Fett zu verlangen. Also alles, was schnell Energie gibt. Wenn wir die Energie aber nicht verbrauchen, ist das nicht so gesund. Versucht euch deshalb, umso mehr gesund zu ernähren, was sich ja auch positiv auf euer Immunsystem auswirkt. Auch Bewegung ist sehr hilfreich, um Stress abzubauen. Da unser Körper und Geist ja in Alarmbereitschaft sind und sich zum Kämpfen oder zum Fliehen vorbereitet haben, haben wir eine erhöhte Muskelspannung und unsere Adrenalinspiegel ist erhöht. Mit Bewegung können wir diese Energie abbauen. Welche Art von Bewegung, hängt ganz von euren Möglichkeiten ab. Ein langer Spaziergang kann genauso gut tun wie 30 Minuten Yoga oder eine Stunde Zirkeltraining. Achtet dabei aber auf die geltenden Schutzmaßnahmen.

"In Krisenzeiten ist unser Überlebensinstinkt eingeschaltet. Der lässt uns Dinge tun, die nicht wirklich notwendig sind."


Apropros Ernährung – Was sagst du zu Hamsterkäufen?

In Krisenzeiten ist unser Überlebensinstinkt eingeschaltet. Der lässt uns Dinge tun, die nicht wirklich notwendig sind. Wer plötzlich den Drang verspürt, irgendetwas im Überfluss zu kaufen, versucht tief durchzuatmen und nochmal zu überlegen, ob das wirklich notwendig ist. Hamsterkäufe können dazu führen, dass manche Güter weniger verfügbar werden, die andere evtl. dringender brauchen.

Also auf andere schauen hilft mir auch bei der Angstbewältigung?

Fürsorge für andere ist in diesen Zeiten enorm wichtig. Nicht nur für Menschen, die allein sind oder besondere Bedürfnisse haben. Am besten können wir diese Krise überstehen, wenn wir es gemeinsam machen. Seid nett zueinander, seid dankbar für das, was andere für euch tun. Versucht z.B. Menschen, die ihr kennt, die krank sind und vermeintlich aus „Infektionsregionen“ kommen, nicht zu diskriminieren oder zu stigmatisieren. Auch wenn „Social-Distancing“ im Moment wichtig ist, sollten wir mehr Aufmerksamkeit auf „Emotional Closeness“ legen.

Die aktuelle Krise könnte ja noch länger dauern. Hast du noch einen Langzeittipp?

Hoffnung! Das Licht am Ende des Tunnels zu sehen, ist manchmal nicht so einfach. Ein Weg, die eigene Hoffnung zu stärken ist, wenn man versucht, sich daran zu erinnern, dass man schon einige Krisen im eigenen Leben überstanden hat und stolz darauf zu sein, wie man diese Krise gemeistert hat. Versucht euch eurer Stärken bewusster zu werden. Fragt euch selbst, worin ihr wirklich gut seid. Auch sich klarzumachen, stressige Situationen „aushalten“ zu können, ist schon unglaublich stark. Wenn ihr das Gefühl habt, alleine überwältigt zu sein und nicht mehr weiterwisst, bitte fragt um Hilfe. Das kann Hilfe von jemandem sein, dem ihr vertraut oder auch professionelle Hilfe. Auch wenn die Ressourcen für psychologische und psychotherapeutische Hilfe im Moment eher knapp sind, haben wir ein Notfallsystem, das in Krisenzeiten funktioniert.

Danke dir für das Gespräch, Raimund!


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Die Corona-Pandemie bringt oft Ängste, Sorgen und soziale Isolation mit sich. Deswegen haben wir eine Seite zusammengestellt, auf der Sie alle notwendigen Informationen finden, um die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen. Neben den wichtigsten Telefonnummern gibt es auch Tipps von Therapeut:innen, die dabei helfen, den Alltag in den eigenen vier Wänden zu meistern. Sie sind nicht allein. Gemeinsam schaffen wir es durch die Krise!

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