Das Leben im Vertriebenenlager in Zeiten von COVID-19

Hameed Hilal ist einer unserer Gesundheitsberater im Vertriebenenlager Laylan 1 im Norden des Iraks. In seinem Blog beschreibt er, wie die COVID-19-Pandemie das Leben der Menschen im Lager weiter erschwert – und viele Familien vor schwierige Entscheidungen stellt.

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Kommentar von International Bloggers
14.08.2020

Tetyana Pylypenko/MSF
Irak, 01.07.2020: Einer unserer Gesundheitsberater im Vertriebenenlager Laylan 1, wo er die Menschen auch über ein Megaphon über COVID-19 aufklärt.

Vor drei Jahren musste Hameed Hilal mit seiner Familie vor dem Islamischen Staat (IS) in ein Lager für Vertriebene fliehen. Heute arbeitet Hameed dort als Gesundheitsberater und unterstützt die Menschen durch Aufklärungsarbeit. In seinem Blog beschreibt er, wie die COVID-19-Pandemie das Leben der Menschen im Lager weiter erschwert – und viele Familien vor schwierige Entscheidungen stellt.

Ich lebe im Lager in Laylan im Gouvernement Kirkuk im Norden des Iraks. Wie viele der Menschen hier im Lager bin ich vor drei Jahren aus meiner Heimatstadt Al-Rashad im Distrikt Hawidscha geflüchtet, weil die Region unter der Kontrolle des Islamischen Staates war.

Durch die Pandemie ist das Leben im Camp für die meisten von uns noch belastender geworden. Wenn man in einem Lager lebt, ist man ohnehin mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert. Durch COVID-19 sind es noch mehr. Die Regierung hat Lockdowns und Bewegungseinschränkungen verhängt, die es den Menschen schwer machen, eine geregelte Arbeit oder auch nur Aushilfsjobs für ein paar Tage zu finden.

Auch wenn der Lockdown wieder aufgehoben wird, ist es wegen der Wirtschaftskrise schwieriger als vorher, Arbeit zu finden. Die Geschäfte laufen überall viel schlechter, und es gibt weniger Bedarf an Arbeitskräften.

Menschen haben keine Wahl

Die meisten der Menschen hier waren von der tageweisen Arbeit abhängig, um ihre Grundbedürfnisse abzudecken – das bedeutet, dass sie von Tag zu Tag bezahlt wurden und kein gesichertes Einkommen haben. Jetzt, wo Arbeit und Geld knapper werden, müssen sich die Menschen dafür entscheiden, arbeiten zu gehen, um ihre Familien ernähren zu können, statt sicher zu Hause zu bleiben.

Gesundheitsberater Hameed Hilal in Laylan-Lager
Narmeen Abbads/MSF
Hameed Hilal lebt selbst als Vertriebener mit seiner Familie im Laylan-Lager. Als Gesundheitsberater klärt er die Menschen über Gesundheitsthemen auf.

Gestern hat mir eine Frau erzählt: „Vor dem Coronavirus ging ich jeden Tag arbeiten. Ich habe 10.000 bis 15.000 IQD [Irakische Dinar] (8 bis 12 US-Dollar) pro Tag verdient, und davon konnten wir leben. Jetzt ist unser Einkommen wegen der schlechten Wirtschaftslage und der häufigen Lockdowns stark gesunken. Ich kann nicht wirklich besonders darauf achten, mich vor dem Coronavirus zu schützen. Wenn ich irgendwo Arbeit finde, gehe ich dorthin. Ich kann nicht auf mich selbst aufpassen, während meine Familie nicht die grundlegendsten Dinge hat, die sie braucht.“

Die Menschen können ihre Arbeit nicht so einfach aufgeben, Abstandsregeln und Richtlinien zur Heimquarantäne einzuhalten.

Gesundheitsberater wie ich besuchen die Menschen im Lager regelmäßig, um die Familien über COVID-19 aufzuklären. Die meisten Menschen hier haben aber auch Zugang zum Internet oder zum Fernsehen und wissen, was die Symptome sind, und sie verstehen die Risiken und wie sie sich schützen können.

Kampf um das tägliche Überleben

Das Problem ist, dass die Menschen nicht die nötige Unterstützung bekommen, die es ihnen erleichtern würde, zu Hause zu bleiben. Mit der begrenzten Hilfe, die sie bekommen, bleibt ihnen nichts anderes übrig als hinauszugehen und nach Arbeit zu suchen, damit sie ihre Familien versorgen können.

[…] Die allgemeinen hygienischen Bedingungen im Lager sind unzureichend. Wegen des finanziellen Drucks können die Menschen aber nicht besonders viel über Hygiene nachdenken. Sie konzentrieren sich darauf, wie sie Geld für den nächsten Tag verdienen können, woher sie Nahrungsmittel bekommen und wie sie ihre Grundbedürfnisse abdecken können, falls sie keine Arbeit finden.

Der Innenraum eines Wohnzeltes im Laylan-Lager
Narmeen Abbads/MSF
Irak, 04.05.2020: Der Wohnraum eines der Zelte, in denen vertriebene Familien im Laylan-Lager auf engem Raum zusammenleben.

Bis vor ein paar Monaten bekamen die Menschen regelmäßig Lebensmittelhilfen, aber jetzt bekommen sie stattdessen Geld. Jede Person bekommt 17.000 IQD (14 US-Dollar) pro Monat, aber manchmal verzögert sich die Auszahlung um bis zu zwei Monaten. 17.000 IQD pro Person ist umgerechnet so oder so kaum mehr als 500 IQD (0,40 US-Dollar) pro Tag – ein Betrag, von dem man unmöglich überleben kann.

Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner des Lagers haben schon Schulden bei den Lebensmittelgeschäften. Wenn sie das Geld bekommen, geben sie es also sofort an die Besitzer der Geschäfte weiter. So schlimm ist die Lage für manche – und das bedeutet, dass sie nicht ohne Weiteres ihre Arbeit aufgeben können, um Abstandsregeln oder Quarantänevorgaben einzuhalten.

Wachsende Spannungen

Da ich im Lager lebe, sehe und höre ich hier und da die Spannungen innerhalb von Familien.

Auf Grund ihrer angespannten finanziellen Situation stehen die Menschen unter mehr Stress, und die Spannungen im Lager steigen. Manchmal fangen Menschen wegen den kleinsten Kleinigkeiten Streit an.

Gesundheitsberater von Ärzte ohne Grenzen bei einem Informations-Workshop im Laylan-Camp
Tetyana Pylypenko/MSF
Irak, 01.07.2020: Gesundheitsberater von Ärzte ohne Grenzen bei einem Informations-Workshop im Laylan-Camp.

Die Unsicherheit darüber, wie lange diese Situation noch andauert, führt zu noch mehr Stress und Zukunftsängsten. Die Menschen fragen sich, wie lange sie noch mit diesen Schwierigkeiten leben müssen: Lockdowns und Arbeitslosigkeit zusätzlich zu den ohnehin schon schwierigen Lebensumständen, in denen sie sich befinden.

Angst vor dem Virus

Eine der Ängste der Bewohnerinnen und Bewohner im Lager (auch von mir) ist, dass Menschen das Lager verlassen und wieder zurückkommen. Wir wissen, das Virus erreicht das Lager nur, wenn sich jemand außerhalb ansteckt. […] Wir würden uns wohler fühlen, wenn es bei jeder Person, die das Lager verlässt, vor der Rückkehr am Eingang ein Screening gäbe.

Wir wissen, dass bei einem COVID-19-Fall im Lager die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass sich das Virus schnell verbreitet. Meine Familie und ich überlegen, für meine Frau und meine Kinder ein Haus in der Stadt zu mieten. Das wäre sicherer, als hier diesem Risiko ausgesetzt zu sein.

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