Wieder ein Tag Leben.

Kommentar von Martin Zinggl
11.09.2014
Wieder ein Tag Leben.

06:13 Uhr. Der Handy-Wecker reißt mich aus dem Schlaf. Es ist stockdunkel im Zimmer. Modriger Geruch fährt mir in die Nase. Alles wirkt verschwommen und trüb, vor allem mein Verstand. Welcher Tag ist heute?

Welches Datum haben wir? Es muss schon September sein, eventuell Mittwoch. In Foya ist jeder Tag gleich. Aufstehen, arbeiten, schlafen gehen. Der große Unterschied: manchmal regnet es mehr, manchmal weniger. Dazwischen gibt es Begräbnisse, Tränen und Entsetzen, Neuankömmlinge und – selten, aber doch – Überlebende. Achja, Ebola ist auch noch da.

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In den Augen dieses Vaters spiegelt sich eine unausgesprochene, tote Leere wieder - seine 7-jährige Tochter ist Ebola zum Opfer gefallen. Er wird mit einer Schutzkleidung ausgerüstet, um der Vorbereitung des Leichnams bewohnen zu können. (c) Martin Zinggl

Eigentlich ist es unbegreiflich und beschämend, dass diese Zeilen überhaupt noch geschrieben werden müssen: Seit dem Ausbruch der Ebola-Epidemie vor mindestens sechs Monaten wiederholt sich das Geschehen Tag für Tag. Seit sechs Monaten sieht die Welt tatenlos zu, wie in diesem Eck Afrikas Menschen dahin raffen. Seit sechs Monaten grüßt das Murmeltier – täglich.

Es werden Pläne geschmiedet, es werden Versprechen erzwungen, es wird Hoffnung gegeben – und zunichte gemacht. Wo sind die Experten? Das medizinische Personal? Die Katastrophenhelfer? Wo sind die Ressourcen? Das Chlor? Die Behandlungszentren? Die Hygiene-Kits? Die Geländewägen? Helikopter, Benzin, Lebensmittel, Gummistiefel, Handschuhe,...? Die Liste ist endlos lange.

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Desinfektion der Schutzkleidung ist Teil der detaillierten Prozedur zum Schutz des medizinischen Teams, die in direktem Kontakt mit infizierten PatientInnen stehen. (c) Martin Zinggl/MSF

Gelinde gesagt, reißen sich die Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen den Allerwertesten auf in Westafrika. Dafür erhalten wir weltweit viel Dank und Anerkennung. Dankeschön, ehrlich! Andere Akteure hingegen findet man noch seltener als Ebola-Überlebende. Also, falls das noch nicht durchgedrungen ist bis Brüssel, Genf, New York und Moskau, hier noch einmal zur Erinnerung: ÄRZTE OHNE GRENZEN SCHAFFT DAS ALLEINE NICHT! BITTE KOMMT UND PACKT MIT AN! Ja, wir kümmern uns um Ebola-Patienten, aber es kommen täglich neue nach. Unser Credo kann nur „Schadensbegrenzung“ lauten – und das fühlt sich an, als ob man einen Diabeteskranken zwischen Fanta und Coca Cola auswählen lässt.

Hier in Foya glauben wir in einem der Epizentren dieser Epidemie zu operieren. In Wahrheit wissen wir nicht, wie die Lage im Rest des Landes aussieht. Wir wissen nicht, ob es Gebiete in Liberia gibt, die weit schlimmer betroffen sind. Wir wissen nicht, ob da nicht irgendwo ganze Dörfer entweder bereits ausgerottet oder vom Rest der Welt abgeschnitten sind. Irgendwann werden wir es herausfinden.

01:36 Uhr. Als Zeichen ihrer Dankbarkeit haben die Nachtwärter in der Unterkunft Wasser aufgekocht, damit wir uns spät abends eine warme Kübeldusche gönnen können. Ich liege im Bett und starre ins schwarze Nichts. Es ist stockdunkel im Zimmer, wieder oder noch immer. Draußen zirpen die Grillen. Trotz Müdigkeit komme ich nicht zur Ruhe. Zu groß sind der Ärger und die Frustration. Zu präsent sind die Bilder des Tages in meinem Kopf. Wieder mussten wir das blanke Entsetzen eines Vaters ertragen, als wir seine 7-jährige Tochter begruben. Wieder brachten wir fünf (wahrscheinlich) mit Ebola infizierte Menschen von irgendwelchen abgelegenen Dörfern in unser Behandlungszentrum, das "Case Management Centre" (CMC). Wieder mussten wir mehreren Dutzend Dorfbewohnern Rede und Antwort stehen, warum wir ihre Häuser mit Chlor desinfizieren:

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Zwei MitarbeiterInnen in Schutzkleidung bei der Desinfektionen eines Hauses. (c) Martin Zinggl

Und wieder mussten wir zusehen als eine hochschwangere Frau vor unseren Augen innerlich verblutete. Und all das ist noch gar nichts im Vergleich zu den Szenen in Monrovia.

Zeit einzuschlafen. Morgen geht der Kreislauf von vorne los...

Martin Zinggl

 Martin Zinggl ist seit August als Communication Officer in Liberia im Einsatz. Weitere seiner Fotos aus Foya sind in einem Facebook-Album online zu finden.

 

 

 

 

 

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"Ebola in Town - Erste Eindrücke aus Westafrika"
"Würde trotz Leid" - Foto-Reportage aus dem Flüchtlingslager Domiz im Irak

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15.10.2014
17:50
Daniela Klein

Ich muss mich anschließen! Ich bewundere Euren selbstlosen Einsatz.
Wir können nur bestürzt zusehen und spenden.

14.09.2014
20:21
theresamainka

Sehr bewegend... Großen, großen Respekt an eure Arbeit!

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