Jahresrückblick 2020
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Was für ein Jahr! Vor einem Jahr hätte wohl niemand damit gerechnet, dass das Jahr 2020 so verlaufen würde, wie es schlussendlich verlief. Es war ein Jahr voller neuer Herausforderungen.
Auch in unserer Arbeit war die COVID-19-Pandemie das vorherrschende Thema: Ärzte ohne Grenzen startete Hilfsmaßnahmen in europäischen Staaten, wie Italien und Frankreich. Für Länder, die ohnehin schon mit Krisen zu kämpfen hatten, verschlimmerte das Virus die Lage. Vielerorts mussten wir unsere Aktivitäten an die neue Situation anpassen.
Corona war aber nicht die einzige Krise, die uns beschäftigte: Wir bekämpften Epidemien, wie Masern und Ebola. Wir halfen Menschen auf der Flucht. Wir leisteten Soforthilfe bei Katastrophen. Wir waren Sprachrohr für Menschen in Not.
Sehen Sie hier, unseren Jahresrückblick 2020 in Bildern:
Seenotrettung. Große Erleichterung bei Brakhado* und ihrem 11-monatigen Sohn Aeden*. Nach drei Jahren regelmäßiger Folter und Inhaftierungen in Libyen, mehreren missglückten Versuchen, das Mittelmeer zu durchkreuzen und der Rettung aus dem sinkenden Schlauchboot, hat sie endlich sicheren, europäischen Boden unter den Füßen. Mit ihr gehen am 29. Jänner 402 gerettete Personen in Italien von Bord der Ocean Viking, einem von SOS Mediterranee und Ärzte ohne Grenzen betriebenen Rettungsschiff. Die höchste Anzahl an Geretteten auf dem Schiff bis dato. Obwohl die Reise über das Mittelmeer oft tödlich endet, ist es für die viele der einzige Weg der Gewalt zu entkommen.
(* Namen geändert)
© MSF/Hannah Wallace BowmanKrieg. Am Abend des 25. Februar fallen Bomben und Granaten auf das Gebiet in und um die Stadt Idlib, im Westen von Syrien. Es sind nicht die ersten Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung durch das Regime von Bashar al-Assad in der Gegend und es werden auch nicht die letzten sein. Alleine in die, von Ärzte ohne Grenzen unterstützten, Spitäler kommen 185 Verletzte, 18 Menschen sterben durch diesen Angriff. Auch Schulen und Kindergärten bleiben nicht verschont. „Wir verlangen mit äußerster Dringlichkeit, dass die Regeln des Krieges endlich eingehalten werden. Zivilisten und zivile Infrastruktur müssen geschützt werden“, appelliert Meinie Nicolai, Geschäftsführerin des Einsatzzentrums von Ärzte ohne Grenzen in Brüssel, an die syrische Regierung. Hundertausende fliehen dieser Tage aus Ildib.
© Muhammed Said/Anadolu Agency via Getty ImagesDie neue Pandemie. Im März nimmt das Jahr 2020 eine Wende, die die Welt vor neue Herausforderungen stellt. Am 11. März wird COVID-19 zur Pandemie erklärt. Die schnelle Ausbreitung bringt, sonst gut ausgestattete, Gesundheitssysteme an ihre Grenzen und darüber hinaus. Hilfseinsätze starten, wenn Gesundheitssysteme überfordert sind. Getreu diesem Motto, beginnt Ärzte ohne Grenzen Hilfsaktivitäten auf einige europäische Staaten auszuweiten. So werden Hilfsmaßnahmen im Kampf gegen COVID-19 in Italien, Spanien, der Schweiz, Frankreich, Norwegen, Griechenland und in Belgien gestartet. Hilfe in Pflegeheimen wird verstärkt um besonders gefährdete Gruppen zu schützen. In Spitälern hilft Ärzte ohne Grenzen die Aufnahmekapazitäten zu erhöhen und bietet Beratung und fachliche Expertise zu Schutz- und Präventionskonzepten im Umgang mit Pandemien an.
© Olmo CalvoCOVID-19 als zusätzliche Krise. Nach zwei Wochen im Al-Sahul-COVID-19-Isolationszentrum im Jemen, das von Ärzte ohne Grenzen unterstützt wird, wird der 60-jährige Ghanem Qaid Nasser Ghanem entlassen. Acht Tage kann Ghanem nicht atmen. Er ist sich sicher, dass er sterben wird. Nach vier Tagen auf der Intensivstation und einer Woche Pflege geht es ihm besser. Die COVID-19 Situation im Jemen ist schlimm. Es fehlt an Beatmungsgeräten und Schutzausrüstung. Nach fünf Jahren Krieg im Jemen ist das Gesundheitssystem quasi nicht existent. Die Sterblichkeitsrate der Corona-Infizierten ist sehr hoch. In einem von Ärzte ohne Grenzen betriebenen COVID-Behandlungszentrum sterben innerhalb eines Monats 68 von 173 Patientinnen und Patienten. Ghanem konnte von seiner Erkrankung geheilt werden, doch für viele kommt die Hilfe zu spät.
© MSF/Majd AljunaidDer Blick von oben. Einen innovativen Ansatz in der humanitären Hilfe verfolgt Ärzte ohne Grenzen in Zusammenarbeit mit der Paris Lodron Universität Salzburg. Das Ziel: Effizientere Hilfe vor Ort durch Beobachtung aus dem All. Dafür wird am 8. Juli das "Christian Doppler Labor für raumbezogene und erdbeobachtungs-basierte humanitäre Technologien" eröffnet. Satellitenbilder helfen großräumige Zusammenhänge zu erkennen. So kann zum Beispiel der Bedarf in schnell-wachsenden Geflüchtetenlagern oder zur Bekämpfung von Epidemien eruiert werden. Die Bilder liefern Information darüber, wie viele Leute ungefähr dort leben und wo, welche Infrastruktur gebraucht wird. In Krisensituationen retten zuverlässige und zeitnahe Informationen Leben.
© Astrium & MSF GIS UnitEine humanitäre Katastrophe. Mohammed aus Mali ist nach Libyen geflüchtet in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Neben seinem Job als Hilfsarbeiter sammelt er Altmetalle, um Geld dazu zu verdienen - für 0.64 Euro pro Kilogramm. Das Geld braucht er dringend für seine Familie. Die Hoffnung auf ein bessere Zukunft hat er mittlerweile aufgegeben. Viele Menschen in Libyen sind in der gleichen ausweglosen Situation wie Mohammed. In Libyen jagt eine Krise die nächste: zuerst die Eskalation des bewaffneten Konflikts, dann die Ankunft des Coronavirus, der Zusammenbruch des Gesundheitssystems und die ausbleibende humanitärer Hilfe durch aktuelle Reisebeschränkungen. Kurzum: eine humanitäre Katastrophe. Migrantinnen und Migranten, wie Mohammed, stecken in einer besonders schwierigen Situation. Sie werden in Libyen diskriminiert, nicht selten grundlos inhaftiert und gefoltert.
© Giulio PiscitelliFrauengesundheit. Krisen treffen Frauen oft härter als Männer. Die Corona-Krise macht hier keine Ausnahme. Viele Frauen haben seit Ausbruch der Pandemie, vor allem in Ländern mit schwachen Gesundheitssystemen, keinen oder eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung. Gesundheitseinrichtungen, die zum Beispiel Familienplanung anbieten, sind geschlossen. Ausgangsbeschränkungen führen weltweit zu erhöhter häuslicher Gewalt, einschließlich sexualisierter Gewalt, an Frauen. Auch unter Lieferengpässen und der einhergehenden Preissteigerung für Verhütungsmittel und Medikamente leiden Frauen besonders. Ärzte ohne Grenzen fordert, dass all jene Zugang zu essenzieller Gesundheitsversorgung haben, die sie brauchen.
© MSF/Cecilia RiveroExplosion. Niemand im Libanon rechnet damit, dass 2020 noch schlimmer werden würde: Das Coronavirus und die schwerste Wirtschaftskrise seit langem plagen das Land und Leute. Dann explodiert am 4. August hochexplosives und falsch-gelagertes Lagergut im Hafen von Beirut und zerstört weite Teile der Stadt. Die Bilanz: 204 Tote, viele tausend Verletzte und hunderttausende Obdachlose. Ärzte ohne Grenzen reagiert und weitet die Hilfsaktivitäten vor Ort aus: Wundversorgung für Verletzte, Versorgung von Patientinnen und Patienten mit chronischen Krankheiten und psychologische Betreuung für die von der Explosion betroffenen Menschen.
© Mohamad Cheblak/MSFFlucht. Das Geflüchtetenlager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist kein angemessener Ort zum Leben. Viel zu viele Menschen auf viel zu engem Raum. Kaum sanitäre Einrichtungen, keine funktionierende Wasserversorgung. Auch im Winter schlafen die Menschen in Zelten, allen Witterungen ausgesetzt. Mehr als einmal fordern Ärzte ohne Grenzen und andere Hilfsorganisationen die Evakuierung der Menschen in den Geflüchtetenlagern auf den griechischen Inseln. Nichts geschieht. COVID-Ausgangsbeschränkungen sperren die Menschen im Lager ein. Und dann geht Lager Moria am 8. September in Flammen auf. Menschen, die ohnehin schon wenig hatten, haben plötzlich gar nichts mehr. Allerspätestens zu diesem Zeitpunkt hätte man die Menschen evakuieren und auf europäische Festland bringen müssen. Doch stattdessen wird ein neues, noch schlechter ausgestattetes, Lager gebaut.
© Enri CANAJ/MagnumImpfungen. Aisha* nimmt ihre Impfung gelassen entgegen. Sie ist eine von über 50.000 Kindern im Alter zwischen sechs Monaten und 14 Jahren, die im Rahmen einer Impfkampagne gegen Masern geimpft werden. Im September führt Ärzte ohne Grenzen in der Region Timbuktu im Norden Malis zusammen mit dem Gesundheitsministerium diese dreistufige Massenimpfkampagne durch. Wichtig dabei ist die Bereitschaft der Bevölkerung, hier vor allem der Eltern, ihre Kinder impfen zu lassen "Wir sagen, dass vorbeugen besser ist als heilen. Deshalb ist es besser, Kinder zu impfen, als nachher die Symptome zu behandeln“, betont die Mutter eines jungen Impflings. Ein voller Erfolg für Timbuktu und vor allem die Kinder.
(*Name geändert)
© MSF/Mohamed DayfourEpidemien. Samwengi Bokuma infizierte sich mit Ebola und wurde in unserem Behandlungszentrum in Bolob in der Demokratischen Republik Kongo behandelt. Jetzt strahlt er über das ganze Gesicht: Heute ist er geheilt und arbeitet mit Ärzte ohne Grenzen als Gesundheitsberater. Mehr als zwei Jahre hat die tödliche Krankheit und ihr epidemischer 10. und 11. Ausbruch die D.R. Kongo hart getroffen. Dank der neuer Strategien, die auf einer starken Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung aufbauen, wird am 18. November mithilfe von Ärzte ohne Grenzen der 11. Ausbruch der Epidemie offiziell für beendet erklärt – ein großer Erfolg für das Land und seine Menschen.
© MSF/Franck NgongaFairer Zugang. Wir alle sehnen das Ende der COVID-19-Pandiemie herbei. Mancherorts wurde schon mit dem Impfen begonnen. Auch in Österreich sollen bis zum Sommer alle, die wollen, geimpft werden. Doch Zugang zu Impfstoffen ist kostspielig. Pharmakonzerne arbeiten mit geistigem Eigentum und Patenten. Dadurch können sie Produktion und Preis kontrollieren und nach Belieben gestalten. Viele Staaten können es sich nicht leisten, ihre Bevölkerung durchzuimpfen. Um genau dem entgegenzuwirken, fordern einige Staaten und Organisationen, darunter Ärzte ohne Grenzen, eine Aussetzung von Patenten in Pandemiezeiten. Wir dürfen nicht vergessen: Eine Pandemie kann nur global besiegt werden.
© Phil Moore