07.03.2023
Frauen, die über das Mittelmeer fliehen, sind besonders verwundbar. Uns haben sie erzählt, was sie erlebt haben und was ihnen Kraft und Hoffnung gibt.

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Der Weg über das Mittelmeer ist eine der gefährlichsten Routen, die geflüchtete Menschen auf sich nehmen. Unser eigenes Schiff, die Geo Barents, wurde im Februar 2023 von der italienischen Regierung festgesetzt. Unsere Befürchtungen, dass dieses neue Gesetzesdekret Rettungsbemühungen auf See behindert und zu weiteren Todesfällen führen wird, hat sich leider fast zeitgleich bewahrheitet: Die Nachrichten des schweren Bootunglücks vor Crotone, wo mindestens 62 Menschen gestorben sind, haben uns erschüttert. Geflüchtete Frauen sind eine besonders vulnerable Gruppe. Hier berichten sie von ihren Erfahrungen. 

Wäre ich alleine gewesen, hätten sie mich vergewaltigt.

Adanya, 34 Jahre alt, aus Kamerun

In Libyen habe ich unter Lastwagen und Bussen geschlafen, da ich kein Geld hatte.

Afia, 24 Jahre alt, aus Ghana

Sie sagten, dass sie mich ohne Bezahlung [übers Meer] mitnehmen würden, wenn ich Sex mit ihnen habe.

Linda, 19, aus Guinea

Diese von Überlebenden nacherzählten Erfahrungen sind unter den von uns geretteten Frauen und Männern keine Seltenheit. Anlässlich des Weltfrauentages am 8. März wollen wir den Stimmen geretteter Frauen sowie den Erzählungen männlicher Geretteter über wichtige Frauen in ihrem Leben Gehör verschaffen. Die Überlebenden beschreiben ihre Gründe für die Flucht über die Mittelmeerroute. Begleitet werden ihre Geschichten durch die Zeugnisse unserer Mitarbeiterinnen, die ihre Motivation zu lebensrettender Arbeit und ihre Beziehung zu den Überlebenden teilen.

5

%

Anteil der Frauen, die versuchen über Libyen nach Italien zu gelangen

Fliehende, die die Reise über das Mittelmeer wagen, sind in einer enorm verwundbaren Position. Fliehende Frauen sind zusätzlich noch gender-spezifischer Diskriminierung ausgesetzt. Frauen machen nur einen Bruchteil – etwa 5 Prozent – der Menschen aus, die die gefährliche Reise von Libyen nach Italien antreten.

Besondere Verwundbarkeit weiblicher Geflüchteter

Weibliche Überlebende an Bord der Geo Barents erzählen häufig von Erfahrungen mit Zwangsheirat und Genitalverstümmelung (entweder ihrer selbst oder ihrer Töchter), welche sie dazu brachten, ihr Zuhause zu verlassen. Auch im Zuge ihrer Reise begegnen den Frauen besondere Risiken – unsere Mitarbeiter:innen berichten, dass Frauen häufiger Verätzungen durch den Treibstoff von Bootsmotoren auf der Überfahrt erleiden, da sie meist in der Mitte des Bootes platziert werden. Dort soll es vermeintlich sicherer sein. Viele Frauen berichten von Übergriffen in Form von psychologischer und sexueller Gewalt und Zwangsprostitution. 

Decrichelle zusammen mit weiteren Überlebenden am Morgen ihrer Ankunft in Italien am 11. Dezember 2022.
Mahka Eslami
Decrichelle und andere Überlebende am Morgen ihrer Ankunft in Salerno, Italien am 11. Dezember 2022.

Zu jenen zählt auch die aus Nigeria stammende Decrichelle. Sie kam mit ihrem Baby über Niger und Algerien, um vor ihrem gewalttätigen Mann zu fliehen. Als die beiden in der Wüste ankamen, erkrankte ihre Tochter. Decrichelle konnte sie ohne Medikamente und sonstige medizinische Hilfe nicht retten, ihre junge Tochter verstarb. Sie musste ihr Kind auf ihrer Reise nach Algerien zurücklassen - “eine unendliche Traurigkeit” für sie.  

Bei ihrem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, wurde Decrichelle in Gefangenschaft genommen. Zwar wurde sie aus dem Gefängnis schnell entlassen, daraufhin aber direkt in ein Bordell gefahren.  Einige Freund:innen aus dem Kamerun halfen ihr, zu entkommen. Sie lebte sechs Monate lang im sogenannten  ”Campos” - verlassene Gebäuden und Areale, in denen Migrant:innen darauf warten, von Menschenhändler:innen abgeholt zu werden.  “Ich will an einem Ort sein, wo ich ein normales Leben führen kann. Ich will in der Nacht schlafen können. Ich wollte mit meinem Kind hier sein. Mich schmerzt der Gedanke, dass ich sie in der Wüste zurückgelassen habe und jetzt hier sicher bin.” 

Jenseits aller Schwierigkeiten, denen Frauen auf den Migrationsrouten und in Libyen entgegenstehen, stellen wir sehr oft fest, dass enge Beziehungen zwischen den überlebenden Frauen an Board der Geo Barents entstehen. Sie unterstützen sich gegenseitig bei täglichen Routinen und bei der Fürsorge ihrer Kinder. 

Diese Frauen zu sehen, ist sehr bewegend. Sie flohen vor etwas, das ich selbst auch erlebt habe. In ihrem Kampf liegt ihre Stärke und ihre Hoffnung.

Lucia, stellvertretende Projektkoordinatorin an Bord der Geo Barents

“Ich möchte zu den Frauen sagen: All das ist nicht eure Schuld. Ihr seid genau die gleichen Personen, die ihr davor wart. Ihr seid jetzt sogar stärker”, sagt Lucia, die als unsere stellvertretende Projektkoordinatorin an Board der Geo Barents tätig ist und selbst Betroffene einer Vergewaltigung war.

Der Kontakt zur Mutter

Sprechen wir mit ihnen über die durch die Flucht Zurückgelassenen, erzählen auch männliche Überlebende immer wieder von Frauen. Ahmed, 28, wurde im Sudan als Sohn eriträischer Eltern geboren, die im Sudan Zuflucht vor einem Krieg gesucht hatten. Ahmed hat sein ganzes bisheriges Leben als Geflüchteter verbracht und fühlt sich dem Sudan nicht zugehörig. Er hatte den Wunsch, das Land zu verlassen. Aber als undokumentierter Geflüchteter und aus Furcht vor einer Einziehung in den Militärdienst in Eritrea - einem unterdrückerischen-diktatorischen Regime - fällte er die Entscheidung, über Libyen und das Mittelmeer nach Europa zu gehen. 

Ahmed’s Mutter war die einzige Person, die ihn bei seiner Entscheidung unterstützte, vom Christentum zum Islam zu konvertieren – ungeachtet jener Schikanen, die ihm deswegen durch eigene Familienangehörige zu kamen. “Der Übertritt zum Islam hat mich getroffen, hat meine Freundschaften verändert....sicherlich [gab es deswegen Schwierigkeiten]. Zunächst in meiner Familie: Ich war sehr verschlossen und behielt es vorerst für mich, bis es meine Familie herausfand. Dann begannen die Drangsalierungen. Aber meine Mutter akzeptierte mich. ‘Wenn es sich für dich richtig anfühlt, solltest du es tun’.” Seine Mutter sei einer der Gründe, warum es ihm überhaupt möglich war, den Weg durch den Sudan und Ägypten nach Libyen zu unternehmen. “Sie spielt eine wirklich sehr große Rolle in meinem Leben. Sie war immer so unterstützend und motivierend, sie wollte immer das Beste für mich. Sie ist meine Inspiration und ich hoffe, dass ich sie eines Tages wiedersehen kann.” 

Nicht vergessen, woher man kommt und wer man ist

Die kulturelle Übersetzerin Nejma an Board der Geo Barents.
Nyancho NwaNri
Nejma, kulturelle Übersetzerin an Bord der Geo Barents, unterhält sich am 9. Jänner mit Ekesili Emenike, einer Überlebenden. Neben dem Überbrücken von Sprach- und Kulturbarrieren verbringt Nejma sowohl individuell als auch in Gruppen Zeit mit den Überlebenden, um ihre Fragen zu beantworten und mit Rat und Hilfe beiseitezustehen. Auch sie hat eine Flucht hinter sich.

Nejma arbeitet als kulturelle Mediatorin an Board der Geo Barents. Sie erzählt von ihrer Verbindung mit Überlebenden wie Decrichelle und Ahmed: “Ich bin eine Afrikanerin und eine Frau aus dem Nahen Osten. Ich bin eine Mutter. Es gibt so viele Dinge, die uns verbinden. Vielleicht auch das Faktum, dass ich selbst fliehen musste. Ich denke, es hilft mir zu verstehen, wie es den Menschen in jenen Momenten geht, in denen wir sie finden. Und das ist ein Verständnis, das kein Buch mich hätte lehren können.” 

Du wirst nicht wissen, wohin du gehst, wenn du nicht weißt, woher du gekommen bist.

Nejma, kulturelle Mediatorin an Board der Geo Barents

Als Geflüchtete erzählt Nejma, was ihr dabei geholfen hat, durchzuhalten – auch an jenen Orte zu erreichen, zu denen sie geflohen ist. “[Überlebende müssen] ihre Stärke behalten. Wenn sie in Europa angekommen sind, bedeutet das nicht das Ende ihrer Reise,” sagt sie. “Es ist eine andere Art der Herausforderung: Nicht abzulegen oder zu vergessen, wer man ist und stolz zu sein auf ihre Herkunft. Denn du wirst nicht wissen, wohin du gehst, wenn du nicht weißt, woher du gekommen bist. Und ich möchte, dass sich meine Brüder und Schwestern aus Afrika und dem Nahen Osten daran erinnern, wer sie sind. Dann wird es einfacher sein, weiter zu machen.” 

Über die Fotografinnen

Die Geschichten über Frauen an Board der Geo Barents wurden während unterschiedlicher Fahrten gesammelt. Die Portraits und Zeugnisse wurden von zwei Fotografinnen festgehalten. Mahka Eslami ist eine iranische Fotografin, die in Paris und Teheran aufgewachsen ist. Ihre Arbeiten wurden u.a. in Le Monde, Libération und Néon publiziert. 

Nyancho NwaNri ist eine Kamera-Künstlerin und Dokumentarin aus Lagos, Nigeria. Ihre Arbeiten drehen sich um afrikanische Geschichte, Kultur und spirituelle Traditionen. Ihre zahlreichen dokumentarischen Arbeiten wurden in The New York Times, The Guardian, Aljazeera, Reuters und weiteren renommierten Medien veröffentlicht.  

Über den Einsatz im Mittelmeer

Ärzte ohne Grenzen führt seit 2015 im zentralen Mittelmeerraum Such- und Rettungsaktionen durch. Alleine und in Partnerschaft mit anderen NGOs waren wir mittlerweile auf acht verschiedenen Such- und Rettungsschiffen aktiv und konnten über 85.000 Menschen in Seenot retten. Seit Mai 2021 sind wir mit der Geo Barents – unserem eigens gecharterten Schiff – in Einsatz, um Leben zu retten, Menschen zu helfen und die Geschichten der Überlebenden zu erzählen, die sonst kaum eine Stimme bekommen. Seit Mai 2021 konnten wir 6.146 Menschen retten sowie bei der Geburt eines Babys helfen – und mussten die Leichen von 11 Menschen bergen.