Die Melodie der Hoffnung ist verstummt

Kommentar von
09.11.2016
Das Massengrab im Mittelmeer wird immer größer. Und noch immer schauen wir weg.

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Teams von Ärzte ohne Grenzen arbeiten auf drei Rettungsschiffen im Mittelmeer und haben seit April 18.000 Menschen gerettet. Doch alleine in diesem Jahr sind bereits mehr als 4.200 Flüchtlinge beim dem verzweifelten Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ertrunken.

Eine unserer Mitarbeiterinnen auf dem Schiff "Dignity 1" ist die Krankenschwester Antonia Zemp. Bereits im August erzählte sie im Einsatzblog von ihrer Arbeit auf hoher See und der "Melodie der Hoffnung", die die Menschen anstimmen, sobald sie in Sicherheit sind. Lesen Sie in diesem neuen, eindringlichen Beitrag besonders dramatische Ereignisse der vergangenen Wochen.

Sara Creta/MSF
Antonia Zemp, Krankenschwester und medizinische Koordinatorin an Bord unseres Rettungsschiffes "Dignity 1", versorgt hier einen 18-jährigen Patienten. Er erlitt vor sechs Monaten in Libyen eine Schussverletzung am Arm.

Das Massengrab im Mittelmeer wird immer größer. Und noch immer schauen wir weg.

“Es tut mir so leid, ich wollte dir nur ein besseres Leben ermöglichen…”

Wenn das an Bord unseres Rettungsschiffs „Dignity 1“ Jacob zu seinem verstorbenen, acht Monate alten Sohn Habu sagt, dann ist das nur eine von vielen menschlichen Tragödien, die sich hier auf dem Mittelmeer abspielen. Jacob hat auf dem lebensgefährlichen Fluchtweg über das Mittelmeer drei seiner Kinder, seine Frau, seinen Bruder, Schwägerin und Nichte verloren. Seinen Sohn Habu und seine sechsjährige Nichte konnten wir nur noch tot aus dem Wasser holen; von ihnen konnte sich Jacob wenigstens in Würde verabschieden. Die anderen Familienmitglieder blieben verschwunden, vom Meer verschluckt. Die kalten kleinen Körper zeigen überall Verbrennungen auf, weil sie im Salzwasser, das sich im Schlauchboot mit Benzin vermischt hat, gelegen haben. Sie sind gezeichnet vom Horror, den sie durchgemacht haben.

Sara Creta/MSF

Frans verliert seine Frau Juth. Sie wurde mit kaum noch Lebenszeichen von uns an Bord gebracht. Die Wiederbelebungsmaßnahmen waren erfolglos. Es war zu spät. Auch Juth ist gekennzeichnet mit Verbrennungen. Frans verabschiedet sich von ihr und verfällt in ein Delirium. Er redet pausenlos und erzählt Juth, wie gut sie für ihn war. Auch er entschuldigt sich bei ihr, Frans fühlt sich verantwortlich für ihren Tod: „Juth, ich werde nie mehr eine Frau finden wie dich…“

Zwei andere Patienten werden per Helikopter evakuiert, bewusstlos nach Ertrinkungsunfall. Von ihnen wissen wir nicht einmal die Namen.

Ein Tag nach der extrem schwierigen Rettung, bereits auf dem Weg nach Italien, geht die Tragödie weiter. Mohammed mag nicht mehr. Sein von einer chronischen Krankheit geschwächter Körper hat bereits zu viel durchgemacht und gibt auf. Er erleidet in unserem Spital einen Herzstillstand. Wir kämpfen um sein Leben zusammen mit dem medizinischen Team der italienischen Küstenwache, welches für die Evakuierung benachrichtigt wurde. Aber auch für ihn ist es zu spät und wir müssen ihn gehen lassen. Seine Frau Constanz trauert um ihn. Wenigstens können wir ihr ein Foto ihres Mohammeds geben, welches ihr hoffentlich bei der Verarbeitung helfen wird. Es ist unglaublich berührend, wie zärtlich sie das Foto die ganze Überfahrt anschaut und fest hält.

Courtney Bercan/MSF

Am nächsten Tag müssen wir weiteren Menschen, die bei uns an Bord sind, die Hoffnung nehmen, dass ihre vermissten Familienmitglieder oder Freunde sicher auf einem anderen Rettungsschiff sind. Sie sind und bleiben verschwunden, tot auf dem Meeresgrund.

Wir haben eine syrische Familie bei uns an Bord. Zum Glück haben sie niemanden verloren. Aber wie kann es sein, dass sie auf einem Weg flüchten müssen, der lebensgefährlich ist? Sie kommen aus einem Land, in dem ein brutaler Krieg herrscht, wir alle wissen davon, und sie müssen ihr Leben nochmals riskieren, um in Sicherheit zu sein? Wo bleibt das Recht auf Sicherheit?

Aber auch Jacob, Habu, Frans, Juth, Mohammed und Constanz fliehen vor dem Elend. Sie riskieren nicht ihr Leben, weil sie es einfach ein bisschen besser haben wollen. Sie fliehen davor, nicht zu wissen, wie sie ihre Familie durchkriegen, vor Zwangsheirat, Vergewaltigung, Zwangsrekrutierung. Vor Folterung, Diskriminierung und der Verletzung der Menschenrechte.

Das Jahr 2016, die Mittelmeertragödie ist nichts Neues – und noch immer ist keine politische Lösung in Sicht. Wir sind unseren Mitmenschen einen sicheren und legalen Fluchtweg schuldig. Sie haben sich ihre Situation nicht ausgesucht. Wären wir in ihrer Situation, wir würden das gleiche machen.

Zu schreiben, wie es mir dabei geht, erscheint mir im Moment nicht wichtig. Ich war nur Zuschauerin der Tragödie, unsere Passagiere aber mittendrin. Dadurch, wie ich mich fühle, kann ich nur im Kleinsten erahnen, wie sie sich fühlen.

Die Ankunft in Sizilien verläuft diesmal ohne die Melodie der Hoffnung. Unsere Passagiere sind noch zu mitgenommen, um zu singen und zu klatschen.

Ich hoffe, im nächsten Blog kann ich wieder darüber berichten, wie schön es sich anhört, wenn die Melodie über die Meeresoberfläche hallt.

Für Habu, Juth, Mohammed und die anderen 4.200 Menschen, die ihr Leben im Mittelmeer verloren haben.

Im Jahr 2016 haben insgesamt 327.800 Menschen auf der Flucht nach Europa das Mittelmeer überquert, mehr als 4.200 mussten dabei ihr Leben lassen. Such- und Rettungsaktionen können zwar Leben retten. Angesichts dieser erneuten Tragödie fordert Ärzte ohne Grenzen ein weiteres Mal sichere und legale Fluchtwege. Nur so kann das Sterben im Mittelmeer beendet werden.

#SafePassage

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22.12.2016
10:36
S.S.

Hochgeehrtes Team aus großherzigen und wunderbaren Menschen, ❤
Eure kostbare, tägliche Arbeit, Euren humanitären Einsatz für ein großes Stück mehr Menschlichkeit können mein Mann und ich nur aus der Ferne verfolgen.
Ihr leistet Großartiges. Wir haben große Hochachtung vor Eurem Wirken.
Wenn es Menschen wie Euch nicht gäbe, fehlte viel von der tatkräftigen Liebe, die wir Menschen alle einander schuldig sind.
Danke, dass Ihr die Welt zu einem etwas besseren Ort macht.
Gebt nicht auf, lasst Euch durch NICHTS entmutigen, wir bitten Euch alle.
Für die bevorstehenden Weihnachtstage wünschen wir Euch -und der ganzen Welt- Frieden,
dass Ihr ein Stückchen Stille und Ruhe genießen könnt.
Für das Neue Jahr wünschen wir Euch viel Kraft und Gesundheit.
Eure guten Taten sollen Euch vielfach zurückgegeben werden.
Vergesst bitte nicht, dass Viele auf der Welt Euch zusehen und mittragen.
Danke.

02.12.2016
21:33
Christine Max

Das alles legt sich bleischwer auf mein Gemüt. Aber was sollen wir nur
tun? Die Spenden sind ein Tropfen auf den heißen Stein, aber wenigstens eine kleine Möglichkeit zu helfen. Ich hab große
Hochachtung vor den Menschen die sich persönlich an dieser Front einsetzen um zu helfen. Aber wann hört dieser Wahnsinn, der das alles
verursacht auf?

25.01.2017
22:09
Maria

Ich kann nicht fassen, dass wir in unseren warmen Wohnzimmern sitzen und so wenig tun. Sind wir noch Menschen?
Ihr, die ihr Euer Leben einsetzt für diese Verzweifelten, verdient größte Hochachtung.

21.11.2016
10:40
Brigitte Hediger

Ich bin unglaublich traurig. wie lange wird das noch so weitergehen?

07.02.2017
22:23
Peter Hinterndoprfer

Ich bewundere die Einsatzkräfte und wünsche viel erfolg.
Aufhören wird dieser Wahnsinn erst wenn wir ein gerechteres Wirtschaftssystem haben und jeder kann dazu einen kleinen Beitrag vor seiner "Haustür" leisten.

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