Kommentar von Oliver Barth
26.10.2022
Die Menschen in Niger haben mit vielen Krisen zugleich zu kämpfen, die einander verstärken. Oliver Barth ist Redakteur bei Ärzte ohne Grenzen und berichtet über die Lage aus Diffa im Südosten des Nigers.

An diesem Abend muss das ganze Team noch einmal zusammenkommen – für ein Sicherheitsbriefing. Wir sitzen an einem langen Tisch, hier in unserem Büro in Diffa im Südosten des Nigers. Die Ventilatoren rotieren an der Decke, die Hitze des Tages hängt noch immer im Raum, meine Kolleg:innen sehen müde aus. Dennoch hört jeder und jede konzentriert zu. Der Projektleiter berichtet von Hinweisen, dass die bewaffnete Gruppe Boko Haram aus der Region plane, ein Auto von Hilfsorganisationen zu überfallen und zu stehlen. Er nimmt diese Information sehr ernst und reduziert deshalb unsere Fahrten in der Stadt Diffa für die nächsten Tage auf die nötigsten.  

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Eine Nachricht, die erschüttert

Auch wenn das nur Gerüchte sein könnten, aus jahrzehntelanger Erfahrung wissen wir - und die Nachrichten bestätigen es -, dass wir diese Art Drohungen ernst nehmen müssen: Nicht weit von uns entfernt wurden 13 Menschen von der bewaffneten Gruppe Boko Haram überfallen. Sie töteten elf von ihnen sofort, zwei ließen sie am Leben. 

Überall in dieser Region und weit darüber hinaus erleben die Menschen extreme Gewalt dieser Art und müssen vor ihr fliehen. Auf der Suche nach Schutz verlassen sie ihre Häuser, Vieh und Felder, nehmen nur das mit, was sie am Körper tragen können.  

Die Auswirkungen dieser Situation werden weltweit zu wenig wahrgenommen – es gibt kaum politische Akteure, die sie adressieren. Weil dies eine so stark vernachlässigte Krise ist, sind wir hier. Wir leisten nicht nur medizinische Hilfe, sondern wollen auch von den Menschen erzählen. Als Redakteur dieser Organisation gehört letzteres zu meinen Aufgaben. 

Bidoibidi
Frederic NOY/COSMOS

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Überall spürbarer Mangel

Der Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt. Die Menschen müssen mit sehr wenig überleben. Damit stehen sie ständig am Rand der maximalen Unsicherheit. Wenn dann eine Heuschreckenplage kommt oder Starkregen ihre Felder flutet, ist die Ernte weg, ihr ganzer Verdienst, ihre Lebensgrundlage. Besonders bei Kleinkindern zeigen sich die Auswirkungen eines solchen prekären Lebens sofort: Ihr Immunsystem ist anfällig für alle Arten von Krankheiten, zum Beispiel Malaria oder Durchfallerkrankungen. Wenn dann noch Mangelernährung hinzukommt, wird es lebensbedrohlich.  

Eine Krise mit vielen Ursachen

Neben der Klimakrise, Spekulationen auf Getreide, fehlenden Geldern der Geberländer im Globalen Norden und steigenden Preisen für Lebensmittel, ist aber vor allem Gewalt einer der herausragenden Gründe dafür, dass es in der Region Diffa so viele mangelernährte Kinder gibt. Dabei ist nicht nur die Gruppe Boko Haram für die Gewalt in der Region verantwortlich. An anderen Orten sind es die Männer des sogenannten Islamischen Staates - die zweite größere bewaffnete Gruppe der Gegend.   

Oliver Barth

Es gibt wohl nur wenige Orte auf der Welt, wo Nothilfe so dringend gebraucht wird und gleichzeitig vor so großen Herausforderungen steht. 

Oliver Barth, Redakteur bei Ärzte ohne Grenzen

Angesichts der schwierigen Sicherheitslage können weder medizinische Teams der staatlichen Gesundheitsbehörden des Nigers noch die von Hilfsorganisationen überall dort sein, wo Menschen in Not dringend Hilfe brauchen. Ein Teil der Bevölkerung wird folglich von medizinischer Versorgung abgeschnitten.

Nur die Menschen, die fliehen können oder Transportmöglichkeiten finden (und für die diese bezahlbar sind), erreichen die wenigen scheinbar sicheren Gebiete mit einer entsprechenden Versorgung. Dort wiederum gibt es in der Folge immer mehr Menschen, die sich die begrenzte Menge an Nahrungsmitteln und anderen Ressourcen teilen müssen. Letztlich erkranken dadurch auch dort immer mehr Kinder an akuter Mangelernährung.

Eine Patient:in nach der anderen, ein Leben nach dem anderen

Deshalb sitzen meine Kolleg:innen heute Abend so geschafft an unserem Tisch. Wieder liegt ein langer heißer Tag hinter ihnen. Besonders auf der Intensivstation spüren unsere medizinischen Teams den hohen Bedarf:

In den vergangenen Monaten wurden so viele Kinder mit akuter Mangelernährung zu uns gebracht, dass die Intensivstation überbelegt wurde, zwei oder drei Kinder mussten in einem Bett schlafen. Mittlerweile haben unsere Teams auf dem Gelände der Klinik zusätzliche Zelte aufgebaut, um die Bettenzahl zu erhöhen. In diesem Jahr werden unsere Teams in Diffa doppelt so viele Kinder mit akuter Mangelernährung behandelt haben als im vergangenen Jahr. Und auch bei den Malariaerkrankungen, die jetzt mit der Regenzeit zunehmen, rechnen sie mit hohen Fallzahlen.

Von Mensch zu Mensch für andere da sein

Ich weiß, dass meine Kolleg:innen in Diffa jeden Tag aufstehen und mit Stolz für Ärzte ohne Grenzen arbeiten. Sie werden hier dringend gebraucht und sind für andere da - von Mensch zu Mensch -, trotz der Gefahren, die außerhalb ihres Arbeitsortes auf sie warten. Diese Kolleg:innen zeigen, was Demut vor jedem Leben bedeutet. Sie beeindrucken mich zutiefst.