„Nimm mich in den Arm“

25.10.2017
Ian Cross, einer unserer Ärzte in Cox's Bazar, Bangladesch, berichtet über seine Erfahrungen im Einsatz.
MSF Medical Action - Rohingya Crisis
Antonio Faccilongo
MSF doctor Ian Cross attends to a patient at MSF's medical facility in Kutupalong.

Ian Cross, einer unserer Ärzte in Cox's Bazar, Bangladesch, berichtet über seine Erfahrungen im Einsatz.

Es sah nicht gut aus für das dünne 10-jährige Mädchen, das in einem verdunkelten Raum in der Klinik von Ärzte ohne Grenzen in Kutupalong in der Region Cox's Bazar auf einem Bett lag. Vor elf Tagen war sie gemeinsam mit ihrer Familie aus dem Bundesstaat Rakhine über die Grenze geflohen, nachdem dort Mitte August die Gewalt wieder zugenommen hat. Sie wurde mit einem Wundstarkrampf, starken Rückenschmerzen und steifen Gliedmaßen zu uns gebracht. Ursache dafür war Tetanus, eine Krankheit, die infolge von Impfungen weltweit in den meisten Regionen praktisch verschwunden ist: Nicht aber im Nordwesten Myanmars, der Heimat des Mädchens. Wir hielten das Krankenzimmer der kleinen Patientin ruhig und dunkel, um die Sinneseindrücke gering zu halten, da zu viele Eindrücke einen weiteren schmerzhaften Krampfanfall auslösen könnten.   Die Verkrampfung in ihren Armen verbesserte sich, aber ihre Beine waren immer noch gestreckt mit steifen Zehen. Sie hatte gestern versucht, etwas zu essen, aber sie konnte ihren Mund nicht weit genug öffnen. Dann hat sie ihren Vater angeblickt, der mit überkreuzten Beinen auf der Matratze neben ihr saß. Tränen rannten über seine Wangen. Wir hatten bereits alles in unserer Macht stehende getan, um ihre Genesung zu beschleunigen, aber es war ein sehr langsamer Prozess.   Das Mädchen sah ihren Vater an und sagte etwas durch ihre zusammengebissenen Zähne.   „Was hat sie gesagt?", fragte ich meinen Kollegen Dr. Sharma Shila, der aus Bangladesch kommt und die Sprache versteht.   „Sie will, dass ihr Vater sie in den Arm nimmt", sagte er.   Der Vater sah verzweifelt aus. Er wollte durch die Bewegung keinen weiteren schmerzhaften Krampf auslösen. Da hob ich das Kind sanft auf seinen Schoß, damit er sie umarmen konnte.   Danach wandte ich mich einem Baby zu, das ebenfalls mit Tetanus im gleichen Zimmer lag. Es war erst einen Monat alt. Die Krankheit hätte verhindert werden können, wenn seine Mutter gegen Tetanus geimpft worden wäre. Leider gibt es in den Rohingya-Gebieten in Myanmar keine Schwangerschaftsvorsorge. Ich beschäftigte mich damit, dem Baby beizubringen, abgepumpte Muttermilch von meinem kleinen Finger zu saugen. Denn dann könnte es vielleicht sogar beginnen, Nahrung über die Brustwarzen der Mutter aufzunehmen. Schon nach zehn Sekunden begriff es meine Idee und begann kräftig und rhythmisch zu saugen. Nachdem die Mutter ihr Kind drei Wochen lang mit Hilfe einer Magensonde füttern musste, freute sie sich über die Fortschritte ihres Babys.   Als wir schließlich gehen wollten, warf ich einen Blick auf das kleine Mädchen in den Armen ihres Vaters. Ich war erstaunt: Der Muskelkrampf war bereits so weit zurückgegangen, dass sie ihre Knie um 60 Grad beugen konnte. Ihr Kiefer war nicht mehr zusammengepresst und sie lächelte ihren Vater an.   Bei dem Anblick brach ich fast in Tränen aus. Für mich war in dem Moment klar: Liebe mag kein Medikament sein, aber die Umarmung des Vaters half dem Mädchen, schneller gesund zu werden.