Syrien: Rede von Dr. Joanne Liu, internationale Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen

18.02.2016
Stellungnahme zur Lage im Konfliktgebiet und zu den Angriffen auf von der Organisation unterstützte Krankenhäuser in Syrien.
Dr. Joanne Liu
Natacha Buhler/MSF
Dr. Joanne Liu, International President. October 2013

Ärzte ohne Grenzen hat im vergangenen Jahr fast 100 Angriffe auf von der Organisation unterstützte Krankenhäuser in Syrien registriert. Der entsprechende Bericht zu diesem Thema wurde im Rahmen eines Pressebriefings in Genf im Palais des Nations am 18. Februar 2016 vorgestellt. Zu diesem Anlass sprach auch Dr. Joanne Liu.

Stellungnahme von Dr. Joanne Liu, internationale Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen, Palais des Nations, Genf, 18.02.2016

In Syrien ist heute normal, was nicht normal ist. Es wird akzeptiert, was inakzeptabel ist.

Rücksichtslose, brutale und gezielte Angriffe auf Zivilisten bestimmen diesen Krieg. Zu den unzähligen Toten kommen hundertausende Menschen, die fliehen, weil sie um ihr Leben fürchten. Viele von ihnen sind eingeschlossen, und das Grundrecht auf Flucht wird ihnen verweigert.

Vorsätzliche Angriffe auf zivile Einrichtungen sind zur Routine geworden, darunter auch Krankenhäuser, in denen versucht wird, Leben zu retten.

Die medizinische Versorgung in Syrien liegt im Fadenkreuz von Bomben- und Raketenangriffen. Sie ist zusammengebrochen.

Lassen Sie mich klarstellen: Die Angriffe auf Zivilisten und Krankenhäuser müssen aufhören! Wir dürfen nicht tolerieren, dass solche Angriffe zur Normalität werden.

Der jüngste Angriff ereignete sich erst vor drei Tagen, am 15. Februar in Ma’arat Al Numan in der Provinz Idlib. Um 9 Uhr morgens zerstörten Luftschläge ein von Ärzte ohne Grenzen unterstütztes Krankenhaus. Mindestens 25 Menschen wurden dabei getötet, unter ihnen 9 medizinische Fachkräfte und 16 Patienten. 10 weitere Menschen wurden verletzt.

Nach Aussagen vom dortigen Personal vor Ort wurde das Krankenhaus in einem etwa zwei Minuten dauernden Angriff von vier Raketen getroffen. Nachdem Rettungskräfte eingetroffen waren, gab es 40 Minuten später einen weiteren Angriff.

Es ist unfassbar, dass solche nachgelagerten Angriffe, im Militärjargon "double tap" genannt, medizinisches Personal und Rettungskräfte bei dem Versuch treffen, Verletzten zu helfen.

Doch damit nicht genug. Eine Stunde später wurde ein nahe gelegenes Krankenhaus, das viele Verwundete des ersten Angriffs aufgenommen hatte, selbst getroffen.

Durch diese zynische Zerstörung von Krankenhäusern und Tötung von Mitarbeitern des Gesundheitswesens werden ganze Gemeinden von unverzichtbarer medizinischer Hilfe abgeschnitten.

Alles deutet darauf hin, dass es ein gezielter Angriff war. Wahrscheinlich wurde er von der von Syrien geführten Koalition ausgeführt, die vor allem in dieser Region aktiv ist.

Wir sagen laut und deutlich: Der Arzt Ihres Feindes ist nicht Ihr Feind.

Das Krankenhaus in Ma’arat Al Numan war ein Rettungsanker. Es hatte 30 Betten, 54 Mitarbeiter, zwei Operationsräume, eine Ambulanz und einen Raum für Notfälle. Dort wurden monatlich Tausende behandelt.

Der Angriff in Ma’arat Al Numan fügt sich nahtlos in einen größeren Zusammenhang ein.

Im Jahr 2015 erhob Ärzte ohne Grenzen Daten von 70 durch die Hilfsorganisation unterstützten Gesundheitszentren und Krankenhäusern. Es wurden mehr als 154.000 Kriegsverletzte wurden dort behandelt. 30 bis 40 Prozent von ihnen waren Frauen und Kinder.

Die Daten, die wir gesammelt haben, sind erschütternd, doch sie zeigen nur einen geringen Teil des tatsächlichen Ausmaßes. Die Verletzten und Tote in medizinischen Einrichtungen, die nicht von Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden, bleiben ungezählt. In Wirklichkeit ist die Situation wahrscheinlich viel, viel schlimmer.

Schockierend sind auch die 101 Luft- und Artillerieangriffe der vergangenen 13 Monate auf medizinische Einrichtungen, die von Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden. Mehrere Einrichtungen wurden nach dem Eintreffen von medizinischem Personal und Rettern ein zweites Mal getroffen. Patienten haben uns berichtet, dass sie zu große Angst haben, um noch Krankenhäuser aufzusuchen.
Nach der Intensivierung der Angriffe in den vergangenen Tagen und Wochen sehen sich viele Tausende Menschen nun gezwungen, um ihr Leben zu laufen – darunter viele Frauen und Kinder. Nahe der Stadt Asas in Nordsyrien sitzen jedoch 100.000 von ihnen fest. Sie versuchen, den zunehmenden Luftangriffen und Bodenkämpfen zu entkommen, sitzen jedoch zwischen der türkischen Grenze und einer der Frontlinien fest. Die Türkei hat beachtliche Anstrengungen unternommen, um Millionen syrische Flüchtlinge aufzunehmen; doch jetzt droht eine zivile Katastrophe an der Grenze des Landes. Im Süden droht ein ähnliches Szenario an der nun geschlossenen Grenze zu Jordanien. Insgesamt befinden sich derzeit zwischen 1,6 und 1,9 Millionen Syrer in belagerten Gebieten – sie können nicht vor den willkürlichen, verheerenden Luftangriffen fliehen. Sie benötigen dringend Medikamente, Nahrung und andere Hilfsgüter.

Vier der fünf permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sind in militärische Einsätze in Syrien involviert. Sie versagen dabei, ihre eigenen Resolutionen einzuhalten und Zivilisten, die Gesundheitsversorgung sowie die humanitäre Hilfe zu schützen.

Syrien ist zu einem Schlachtfeld geworden. Es gibt keinen Schutz mehr vor den unablässigen Angriffen. Schulen, Krankenhäuser und Häuser sind zerstört. Millionen sind auf der Flucht. Andere können nicht fliehen; sie sind eingesperrt.

Wir sind Zeugen eines kollektiven, globalen Versagens. Die Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und andere zivile Ziele müssen aufhören und unabhängig untersucht werden. Wir wiederholen unsere Forderung, dass die Bombardements in belagerten Gebieten gestoppt werden müssen. Und wir fordern, dass mehr Hilfe zugelassen und diese nicht behindert wird;  Verletzte und Kranke müssen sofort evakuiert werden. Menschen haben ein fundamentales Recht, vor einem Krieg zu fliehen.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und alle involvierten Mächte in der Region müssen mehr unternehmen. Damit Leben gerettet werden. Und damit dieses Leid endlich aufhört.