17.06.2021
Leben zwischen Ratten und Schlangen, hinter hohen Stacheldrahtzäunen und in ständiger Angst. So etwas gibt es in Europa nicht. Oder doch?

Leben zwischen Ratten und Schlangen, hinter hohen Stacheldrahtzäunen und in ständiger Angst. Man möchte meinen, solche Orte gibt es in Europa nicht. Aber es gibt sie: Die Geflüchtetenlager auf den griechischen Inseln sind solche Orte.  

Mein einziger Traum ist es, von Samos wegzukommen.

Ebo, lebt seit 2 Jahren im Lager

Unter widrigsten Bedingungen werden Geflüchtete in den Camps an den Außengrenzen Europas festgehalten. Die Europäische Union macht keine Anstalten etwas an der Situation zu ändern. Im Gegenteil: Statt die Menschen zu evakuieren und an sicheren Orten unterzubringen, werden einfach weitere Lager gebaut – mit noch höheren Stacheldrahtzäunen.  

Jaber, Sharide und Ebo leben in einem Geflüchtetenlager auf der griechischen Insel Samos. Sie erzählen, wie das Leben im Lager wirklich ist:  

Jaber

Der Krieg in Syrien zwang Jaber und seine Frau zur Flucht. Jabers Frau war damals hochschwanger. Ihr Sohn, jetzt ein Jahr alt, wurde in der Türkei geboren – kurz vor der Überfahrt nach Griechenland. Mehrere Versuche, das Mittelmeer zu überqueren, scheiterten. Schlussendlich gelang es. Die erhoffte Sicherheit fanden sie hier nicht.  

EU failed containment model Report
Evgenia Chorou/MSF
Jaber und seine Familie vor ihrem Zelt

“Hier ist es, wie im Dschungel. Es gibt keinen Strom. Es gibt keinen guten Zugang zu Wasser. Man behandelt uns wie Tiere. Wir fühlen uns als Zielscheibe. Wir sind eine Zielscheibe für die Behörden, wir sind eine Zielscheibe für andere Menschen im Lager.  

Wir haben Syrien verlassen, weil es gefährlich war und Menschenrechte mit Füßen getreten wurden. Unsere Situation hier ist nicht viel besser.  

Das neue Lager, das sie gerade bauen, ist von einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben. Man muss das Lager zu bestimmten Zeiten betreten und verlassen. 

Wir wünschen uns eine Zukunft. Ich möchte mich in der Gesellschaft einbringen, in der ich lebe. Ich möchte, dass mein Kind zur Schule geht und ein normales Leben führen kann."  

Sharide

Sharide, ihr Mann und ihre drei Kindern wohnen seit einem Jahr im Lager. Auch sie mussten ihr Heimatland Syrien wegen des Kriegs verlassen. Mittlerweile hat Sharide vier Kinder. Ihr jüngster Sohn wurde im Camp geboren.

Samos - January 2021
Dora Vangi/MSF
Sharide und ihr jüngster Sohn

„Das einzige, was mein Baby im Winter warm gehalten hat, war diese Decke, die Sie hier sehen. Dieser Ort macht mich krank.  

Bevor ich meinen jüngsten Sohn zur Welt brachte, litt ich an Depressionen. Ich bekam Hilfe in der Klinik von Ärzte ohne Grenzen. Ich konnte mich nicht einmal um meine Kinder kümmern oder das Zelt verlassen. Ich hätte nie gedacht, dass es mir psychisch einmal so schlecht gehen würde. 

Wir haben hier nichts, es ist furchtbar und ich habe jeden Tag Angst, dass etwas Schlimmes passiert.  

Wir wissen nicht, wie es weitergehen soll. Wir wissen nicht, was uns erwartet und wie lange wir hier noch warten müssen.” 

Ebo

Ebo kommt aus dem Senegal. Er verließ sein Heimatland, weil sein Leben in Gefahr war und weil er hoffte, Sicherheit in Europa zu finden. Nach zwei Jahren im Lager hat er die Hoffnung aufgegeben.  

EU failed containment model Report
Evgenia Chorou/MSF
Ebo vor seiner Unterkunft

"Ich habe hier zwei Jahre verloren und nichts getan. Als ich hier ankam, war ich voll Hoffnung. Weil Griechenland ein europäisches Land ist, das Land der Demokratie und der Menschlichkeit. Die Hoffnung habe ich verloren.

Wenn du mental nicht sehr stark bist, wirst du es hier nicht schaffen.  

Ich habe kaum zu essen. Ein Jahr lang musste ich in einem Zelt schlafen, das anderthalb Meter groß war. Keine Ecke hier ist sicher, weil sich die Leute jeden Tag um alles streiten. Wir haben Ratten, wir haben Schlangen. Der Geruch des Mülls ist stark. Wenn man das alles kombiniert, kann man leicht den Verstand verlieren. 

Wir sind jung und stark, wir haben unterschiedliche Ausbildungen und Hintergründe, es gibt Elektriker:innen, Klempner:innen, Bauarbeiter:innen oder Stylist:innenn wie mich - wir wollen arbeiten. Warum werden wir hier gefangen gehalten?  

Ich möchte den Leuten, die noch nicht hierher gekommen sind, sagen, dass sie niemals kommen sollen. Ich habe hier jegliches Selbstwertgefühl verloren. Mein einziger Traum ist es, von Samos wegzukommen."

Lebensumstände, die krank machen

Dass es nicht nur Ebo, Sharide und Jaber so geht, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Allein 2019 und 2020 hat Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos, Samos und Chios 1.369 Patient:innen psychologisch behandelt. Viele zeigten schwere Krankheitsbilder wie posttraumatische Belastungsstörungen. 180 Menschen, davon zwei Drittel Kinder, mussten wegen Selbstverletzungen und Suizidversuchen behandelt werden. Das jüngste Kind war sechs Jahre alt. 

Samos - January 2021
Dora Vangi/MSF
Es sind Lebensumstände, die krank machen.

EU muss Menschlichkeit zeigen

So darf es nicht weitergehen. Die Europäische Union muss ihre Asylpolitik menschlicher gestalten und den “Gefangenen” auf den griechischen Inseln ihre Zukunft zurückgeben.


Bericht „Krise mit Vorsatz“ downloaden

Im Bericht „Krise mit Vorsatz“ finden Sie eine Analyse der medizinischen Daten aus fünf Jahren Einsatz von Ärzte ohne Grenzen auf den griechischen Inseln.