17.11.2021
Humanitäre Hilfe braucht mutige Menschen, die trotz widriger Umstände in den Krisengebieten dieser Welt entschlossen handeln. Solche Menschen trafen wir in Mossul.

"Ich erinnere mich noch genau an den Moment, in dem ich verstanden habe, was es bedeutet, neutral und unparteiisch zu sein", sagt Abdulrahman Dhannoon Chaleel (29), stellvertretender Projektkoordinator in West-Mossul. "Das war 2017. Ich war damals erst seit kurzer Zeit bei Ärzte ohne Grenzen. Wir arbeiteten in einem Krankenhaus im Viertel Nablus in West-Mossul, nahe der Frontlinie. Stündlich kamen Verletzte bei uns an." 

Abdulrahman Dhannoon Khaleel, Project Coordinator Support, Nablus Hospital, West Mossul
Peter Bräunig
Abdulrahman Dhannoon Chaleel

Zwischen den Fronten

Zwischen 2016 und 2017 starteten die irakischen Sicherheitskräfte mit Unterstützung einer US-geführten internationalen Koalition eine Militäroffensive, um Mossul von der Gruppe Islamischer Staat zurückzuerobern, die die Stadt dreieinhalb Jahre lang besetzt hatte. "Die Situation war chaotisch", erinnert sich Abdulrahman Dhannoon Chaleel. 

"Eines Tages nahmen wir ein verwundetes Kind auf. Der Sechsjährige wurde verhört, weil der Verdacht bestand, sein Vater sei Mitglied der Gruppe Islamischer Staat,“ berichtet Dhannoon Chaleel. 
 

Abdulrahman Dhannoon Khaleel, Project Coordinator Support, Nablus Hospital, West Mossul

Für uns war ganz klar, was zu tun war: Wir stellten uns vor den Jungen und schützten ihn. Das Einzige, was für uns zählte, war, dass er medizinische Hilfe brauchte.

Abdulrahman Dhannoon Chaleel

Am Ende stellte sich heraus, dass er und seine Eltern Zivilist:innen waren. Sie waren geflohen, hatten es jedoch nicht geschafft, den Kämpfen zu entkommen. Sie saßen in der Altstadt fest, als ihr Häuserblock hinter die Frontlinie geriet. Im Chaos wurde die Familie auseinandergerissen.
 

Humanitäre Prinzipien sind unser Fundament

Im Irak spüren die Menschen bis heute die Auswirkungen des verheerenden Kriegs. Die schwersten Kämpfe gegen die Gruppe "Islamischer Staat" sind zwar seit vier Jahren beendet, doch die Zahl der Vertriebenen bleibt hoch, das psychische Trauma der Menschen unbehandelt. Viele zerstörte Gesundheitseinrichtungen sind noch nicht wieder vollständig funktionsfähig. “In komplexen Gemengelagen wie in Mossul oder auch in Afghanistan oder dem Jemen sind sie die humanitären Prinzipien ganz besonders wichtig,” erklärt Abdulrahman Dhannoon Chaleel. “Weil wir uns strikt an Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit halten, können wir in diesen schwierigen Situationen arbeiten.”

Indem wir uns unabhängig finanzieren und unsere Hilfe unparteilich und neutral leisten, allein auf der medizinischen Ethik beruhend, erlangen wir das Vertrauen der Konfliktparteien und der Zivilbevölkerung. Die humanitären Prinzipien schützen unsere Mitarbeiter:innen und Patient:innen und machen unsere weltweite medizinische Hilfe möglich.

Hoffnung auf Zukunft in Mossul

Die Spuren des Krieges sind im Stadtbild Mossuls allgegenwärtig. Auch wenn der Wiederaufbau vorangeht, sind viele Krankenhäuser noch nicht wieder ganz funktionsfähig. “Die Menschen wollen nach vorne schauen,” erklärt Abdulrahman Dhannoon. “Viele würden sagen, dass sie glücklich sind. Aber in Wirklichkeit haben wir eine Menge Elend gesehen, wirklich eine Menge Elend. Ich war hier in Mossul. Von der Zeit, als 2014 alles begann, bis zum Ende des Krieges. Niemand kann erklären, wie das war. Es gibt keine Worte dafür.. es war, als würde man von innen gefoltert. Da war keine Zukunft. Nichts. Das hat den Menschen, die hier geblieben sind, eine schwere Last aufgebürdet. Doch darüber spricht niemand. - Ja, wir haben unsere Stadt zurück. Ja, die Stadt ist sicherer, aber da ist viel Wut und Schmerz in den Augen der Menschen, wohin man auch geht."

Zwischen Trümmern entsteht neues Leben

In unserem Nablus-Krankenhaus und in der Klinik in Al-Nahrawan, einem der ärmsten Viertel Mossuls, kommen mit unserer Hilfe bis zu 1.000 Kinder pro Monat zur Welt. Der Bedarf für Geburtshilfe ist so groß, dass das Krankenhaus in Nablus inzwischen zu einer Klinik für Geburten, Pädiatrie und Neugeborenenpflege umfunktioniert wurde. Neues Leben in einer sich langsam erholenden Stadt. Im Osten Mossuls bieten wir im Al-Wahda Krankenhaus rekonstruktive Chirurgie und postoperative Versorgung und an allen drei Standorten psychologische Betreuung und Gesundheitsberatung.

Tanya Haj-Hassan, Paediatrician, Nablus Hospital, West Mosul
Peter Bräunig

Die Lage im Bezirk Ninawa und in der Stadt Mossul ist heute vergleichsweise ruhig - so ruhig, wie seit langem nicht mehr. Sicherheitskräfte sichern den Frieden in der Region: In den Städten Ninawas und an den sie verbindenden Straßen begegnen uns schwer bewaffnete Sicherheitskräfte - überall gibt es Kontrollpunkte. Gelegentliche Angriffe auf die Sicherheitskräfte und Zivilist:innen wecken Erinnerungen an die Zeiten des Kriegs. So bleiben unsere humanitären Prinzipien trotz der Ruhe wichtig, denn nur so können wir Menschen in Not helfen.

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