„Ich werde es der ganzen Welt erzählen”

09.08.2012
Unterstützung für HIV-positive Menschen - Ein Interview

Themengebiet:

Swasiland 2012
MSF/Irene Jancsy
Shiselweni, Swasiland, 29.06.2012: Thembi Ngcamphalala ist „Experten-Klientin” von Ärzte ohne Grenzen in der entlegenen Region Shiselweni in Swasiland.

Thembi Ngcamphalala ist „Experten-Klientin” von Ärzte ohne Grenzen in der entlegenen Region Shiselweni in Swasiland. Ihre Aufgabe ist es, Menschen zu beraten, die HIV positiv sind. Wir treffen die fröhliche, energiegeladene Frau in einer kleinen Klinik im Weiler Dwaleni. Bereitwillig erzählt sie ihre Geschichte.

„Im Jahr 2001 wurde ich positiv auf HIV getestet. Damals war ich 25 Jahre alt und in einer fürchterlichen Verfassung. Ich hatte viel Gewicht verloren, musste mich ständig erbrechen, mir war einmal heiß, dann wieder kalt und ich sprach unverständliches Zeug. Mein ganzer Körper war mit Wunden überzogen, ich saß im Rollstuhl. Ich war buchstäblich mehr tot als lebendig.

Schließlich brachte mich mein Bruder ins Krankenhaus in Mansini, der größten Stadt in Swasiland. Die Ärzte diagnostizierten eine Lungenentzündung und holten vier Liter Wasser aus meinen Lungen. Sie fragten mich, ob ich einen  HIV-Test machen wollte. „Was ist das?“, antwortete ich. Damals wusste ich nicht einmal, dass AIDS existierte. Ich hatte mein ganzes Leben in meinem kleinen Dorf verbracht und wusste nicht, was sonst auf der Welt los war.

So wurde ich also getestet und erfuhr, dass ich positiv bin. Meine CD4 Zahl, der Messwert, der hilft den Fortschritt der Krankheit zu bestimmen, lag bei drei. Das ist sehr, sehr niedrig und bedeutet, dass ich praktisch kein Immunsystem mehr hatte. Es ist unglaublich, dass ich überhaupt noch am Leben war. Glücklicherweise bekam ich gleich eine sehr gute Beratung. Die Ärzte informierten mich über die Möglichkeit einer Behandlung und ich stimmte sofort zu. Am 26. Jänner 2002 begann ich mit den antiretroviralen Medikamenten zur Behandlung von HIV.

Zu dieser Zeit war es eine riesige Schande HIV positiv zu sein. Positive Personen wurden nicht wie normale Menschen behandelt. Außer meinem Bruder, der sich um mich kümmerte, verriet ich niemandem von meiner Infektion. Ich war so dünn, dass die Menschen Angst hatten, mir die Hand zu geben. Aber bald ging es mit besser. Nach zwei Wochen hatte ich meinen Rollstuhl verlassen und brauchte nur mehr einen Stock zum Gehen. Ich begann Physiotherapie, um wieder den Gebrauch meiner Beine zu erlernen.

Ein Jahr verging, bevor ich meiner Familie die Wahrheit erzählte. Zuerst waren sie schockiert und wollten nichts davon hören. Zu dieser Zeit waren schon so viele Menschen gestorben, darunter auch meine Tante und einige meiner Schwestern. In Swasiland sprechen die Menschen über HIV wie über ein wildes Tier, sie nennen die Infektion „Welt-Killer“ – das zeigt, wie groß die Angst ist. Meine Angehörigen wollten nicht einmal das Geschirr mit mir teilen.

Ich erinnere mich an eine Begebenheit, die mir sehr wehtat: Ich war mit meinem Cousin unterwegs und mir wurde kalt, also borgte er mir seine Jacke. Als ich sie zurückgab, verbrannte er sie aus Angst infiziert zu werden. Es war so frustrierend, dass die Menschen so wenig Kenntnis über die Krankheit und die Behandlungsmöglichkeiten hatten. Also sagte ich mir: „Ich werde der ganzen Welt erzählen, dass der HIV-Test und die Behandlung mein Leben gerettet haben.“

Im Jahr 2004 begann ich mit Freiwilligenarbeit  für eine Hilfsorganisation für Menschen  mit HIV/Aids in Nhlangano, der Hauptstadt der Region Shiselweni. Sie baten mich, über meine Erfahrungen zu sprechen. So erzählte ich den Menschen von der antiretroviralen Behandlung, und wie sie mir geholfen hatte. Als ich im Jahr 2009 immer öfter Autos von Ärzte ohne Grenzen in Nhlangano sah, wurde ich neugierig und fragte herum. Jemand erzählte mir, was Ärzte ohne Grenzen macht. Ich schrieb sofort eine Bewerbung und wurde als „Experten-Klientin“ angestellt. Meine Aufgabe ist es, Menschen vor und nach dem Test zu beraten und für die Patienten da zu sein, wenn sie Unterstützung brauchen.

Ich mag die Arbeit mit den Patienten sehr gern. Ich weiß, dass ich ihnen Hoffnung gebe, wenn ich meine Geschichte erzähle. Mir geht es jetzt gut. Ich habe einen vier Jahre alten Buben, der HIV-negativ ist. Bevor ich ihn bekam, sind fünf Kinder, die ich auf diese Welt gebracht habe, gestorben, jedes nach sechs Monaten. Mein ältester Sohn ist 17, und ihm geht es auch gut. Ich weiß, was die Patienten durchmachen, und es ermutigt sie, wenn ich ihnen meine Geschichte erzähle und ihnen sage, wie wichtig es ist den Behandlungsplan einzuhalten. Vor einigen Tagen hat mir ein junges Mädchen sogar gesagt, dass ich ihr Vorbild bin. Das hat mich sehr glücklich gemacht.

Neben meiner Arbeit mit den Patienten bin ich auch eine Betreuerin im „Teen-Club“ von Ärzte ohne Grenzen. Einmal pro Monat treffen sich an einem Samstag HIV-positive Kinder und Teenager, um über Themen zu sprechen wie die Behandlung, wie sie mit den Nebenwirkungen zurechtkommen oder darüber was sie davon halten, ihren „Status“ in der Schule zu verheimlichen. Es macht mir große Freude, mit jungen Leuten zu arbeiten. Sie haben keine Angst vor dem Leben, weil sie Andere kennen, die sich in der gleichen Situation befinden und dennoch alles machen, was sie wollen. Manche besuchen sogar die Universität.

Ich bin dankbar für mein jetziges Leben. Ärzte ohne Grenzen hat meine Sicht auf die Welt verändert. Diese Organisation hat vielen Menschen wieder Hoffnung gegeben. Durch die Dezentralisierung der Behandlungsplätze bringt Ärzte ohne Grenzen die Medikamente direkt zu den Betroffenen. Wir müssen nicht mehr den weiten Weg ins Krankenhaus auf uns nehmen, das macht es viel einfacher, die Behandlung weiterzuführen. Wer weiß, wie viele Gräber es in all den Dörfern von Shiselweni gäbe, wenn Ärzte ohne Grenzen nicht wäre.