Syrien: Regierung missbraucht medizinische Einrichtungen als Mittel zur Verfolgung Oppositioneller

Regime geht gezielt gegen verwundete Demonstrierende und medizinisches Personal vor
08.02.2012
Syrien 2012
Wikimedia Commons
Damaskus, Syrien, 21.03.2005: Ansicht von Damaskus bei Nacht.

Paris/Wien, 8. Februar 2012. Das syrische Regime geht gezielt gegen verwundete Demonstranten und gegen Mediziner vor, die die Opfer der Gewalt im Land behandeln. Das geht aus Berichten von Ärzten in Syrien sowie von Verwundeten hervor, die außerhalb Syriens medizinisch versorgt werden. Die Aussagen wurden von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontiéres (MSF) gesammelt. Sie stammen von mehreren Personen aus verschiedenen Regionen Syriens und lassen auf gezielte Übergriffe auf die medizinische Versorgung Verwundeter schließen. Ärzte ohne Grenzen kann nicht direkt in Syrien arbeiten, behandelt aber Flüchtlinge außerhalb des Landes und steht mit Ärzten in Syrien in Kontakt.

„In Syrien werden verwundete Patienten und Ärzte gezielt verfolgt. Sie sind in Gefahr, durch Sicherheitskräfte verhaftet und gefoltert zu werden“, erklärt Marie-Pierre Allié, Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontiéres in Frankreich. „Medizin wird als Mittel zur Verfolgung eingesetzt.“

Die meisten Verwundeten suchen aus Furcht vor Verhaftung und Folter keine öffentlichen Krankenhäuser auf. Falls doch, werden manchmal falsche Namen verwendet, um die Identität zu verschleiern. Ärzte stellen mitunter bewusst falsche Diagnosen, damit die Patienten den Sicherheitskräften entkommen, die gezielt nach für Demonstranten typischen Verletzungen suchen.

Neutralität medizinischer Einrichtungen

„Es ist entscheidend, dass die syrischen Behörden die Neutralität der medizinischen Einrichtungen wieder herstellen“, sagt Marie-Pierre Allie. „Krankenhäuser müssen geschützte Bereiche sein, in denen verwundete Patienten ohne Diskriminierung behandelt werden, in denen sie sicher sind vor Übergriffen und Folter – und wo Ärzte und Pfleger nicht ihr Leben riskieren, wenn sie nach dem ärztlichen Berufskodex handeln."

Die Verletzten werden größtenteils an geheim gehaltenen Orten behandelt. Auf diesem Wege versuchen Ärzte ihrer Verpflichtung nachzukommen, den Menschen medizinisch zu helfen. Improvisierte Kliniken sind etwa in Wohnungen und auf Bauernhöfen errichtet worden. Wohnräume wurden zu provisorischen Operationssälen umfunktioniert. In diesen als "mobile Krankenhäuser" bekannten Einrichtungen sind die hygienischen Bedingungen und die Möglichkeiten, Instrumente zu sterilisieren, begrenzt. Die Vorräte an Narkosemitteln sind knapp. Dazu kommt, dass allein der Besitz von Medikamenten und einfachem medizinischem Material wie Mullbinden wie ein Verbrechen verfolgt wird.

Sicherheitskräfte greifen mobile Kliniken an

„Die Sicherheitskräfte greifen die mobilen Kliniken an und zerstören sie“, sagte ein Arzt, der anonym bleiben will. „Sie dringen in Häuser ein und suchen nach Medikamenten und medizinischem Material“. Sicherheit ist die Hauptsorge der Ärzte, die in den medizinischen Parallelstrukturen im Untergrund arbeiten. In dem herrschenden Klima des Terrors muss eine Behandlung schnell erfolgen, da Ärzte und Patienten ihren Aufenthaltsort ständig wechseln müssen, um nicht entdeckt zu werden.

„Wir werden ständig von den Sicherheitskräften verfolgt”, sagt ein anderer Arzt. „Viele Kollegen, die verwundete Patienten in ihren privaten Kliniken behandelt haben, wurden verhaftet und gefoltert.”

Wenige Verletzte können fliehen

Es ist extrem schwierig, in den geheimen Einrichtungen größere Verletzungen zu behandeln und die postoperative Nachsorge sicherzustellen. Erschwerend kommt hinzu, dass die im Verborgenen arbeitenden Helfer keinen Zugang zu Blutkonserven von der zentralen Blutbank haben, der einzigen Institution im Land, die Blutkonserven bereitstellt. Sie wird vom syrischen Verteidigungsministerium kontrolliert.

Nur wenige Verletzte haben es geschafft, in Nachbarländer zu fliehen, wo sie - allerdings verspätet - eine angemessene medizinische Versorgung erhalten.

Nur eingeschränkte Hilfe möglich

„Ich war am Oberschenkel verletzt, und die Soldaten haben mich erwischt“, berichtete ein von Ärzte ohne Grenzen behandelter Patient. „Sie schlugen mir auf den Kopf und auf meine Wunde, aber ich habe es mit der Hilfe von Menschen in meiner Umgebung geschafft, zu fliehen. Schließlich habe ich jemanden gefunden, der mich behandeln konnte – allerdings einen Krankenpfleger, keinen Arzt. Er hatte nicht einmal Betäubungsmittel.“

Unter den derzeitigen Umständen sind die Möglichkeiten von Ärzte ohne Grenzen, für die syrische Bevölkerung medizinische Hilfe zu leisten, stark eingeschränkt. Die Organisation hat monatelang erfolglos versucht, eine offizielle Genehmigung für die Behandlung von Verletzten in Syrien zu erhalten. Ärzte ohne Grenzen behandelt Patienten außerhalb Syriens und unterstützt durch die Lieferung von Medikamenten, medizinischem Material sowie Chirurgie- und Transfusionskits Netzwerke von Ärzten in Syrien.

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Pressedossier (engl.)