Drei Babies, drei Geschichten!

Das Gute hier im Krankenhaus inmitten der Hauptstadt von Afghanistan ist: Es wird nie langweilig. Das Schlechte: Es wird nie langweilig. Es gibt immer was zu tun und wenn man denkt, man hat alles gesehen, dann kommt garantiert die nächste Überraschung.
Kommentar von
10.06.2015

Der Arzt Dr. Jakob Krösslhuber ist seit Februar auf seinem ersten Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan. Dort ist er sechs Monate lang für die Betreuung der neonatalogischen Intensivstation in einem Bezirkskrankenhaus in West-Kabul zuständig. Ärzte ohne Grenzten unterstützt das Spital, denn spezialisierte medizinische Hilfe ist in Afghanistan für viele Menschen kaum erreichbar. Nach seinem ersten "Email aus dem Einsatz" erzählt er nun, welche Schicksale ihm von diesem Projekt in Erinnerung bleiben werden.

Das Gute hier im Krankenhaus inmitten der Hauptstadt von Afghanistan ist: Es wird nie langweilig. Das Schlechte: Es wird nie langweilig. Es gibt immer was zu tun und wenn man denkt, man hat alles gesehen, dann kommt garantiert die nächste Überraschung.

Jakob Krösslhuber/MSF
Ein kleiner Ausschnitt all der Babys auf unserer Station…

Von der Vielzahl der Neugeborenen mit allen möglichen Problemen möchte ich drei mit euch teilen, die mir besonders nahe gingen oder mich besonders beeindruckten.

Das Überraschungs-Baby

Früh am Morgen, so wie jeden Tag, fährt das gesamte Team ins Krankenhaus, um die tägliche Routine zu beginnen. In der Neugeborenenstation angekommen berichtet mir ein afghanischer Kinderarzt, der Nachtdienst hatte, von einem neuaufgenommen Baby mit der Diagnose „Geburts-Asphyxie“. Das ist ein Krankheitsbild, das wir öfter sehen. Es bedeutet, dass das Baby bei der Geburt nicht geatmet hat und zu wenig Sauerstoff im Blut bzw. im Gehirn hatte. Je länger dieser Zustand andauert, umso wahrscheinlicher sind Schäden am Gehirn. Viele von diesen Babys sterben leider.

Bei meiner ersten Begutachtung brauchte das Neugeborenen viel Sauerstoff, über einen Schlauch in die Nase. Es bewegte sich gar nicht – ein schlechtes Zeichen. In Gedanken gehe ich alles durch, was man verbessern könnte: Was hilft dem Baby? Was habe ich zur Verfügung? Wie wird sich das Baby entwickeln? Und wird es das überleben? Ich gebe zu, ich war bereits sehr pessimistisch. Der Arzt vom Nachtdienst erklärte, was vorgefallen war und der Beschreibung nach hat er gute Arbeit geleistet. Jetzt sind die nächsten Stunden entscheidend! Wird sich das Baby bessern oder wird es sich verschlimmern?

Nach einer halben Stunde beginnt die Visite mit den anderen, teils schwer kranken Babys auf Station. Die tägliche Routine der Station. Bevor ich ins Büro gehe, noch ein schneller Blick auf das Baby: Es braucht etwas weniger Sauerstoff, ansonsten ist alles unverändert.

Zwei Stunden später bin ich erneut auf der Station wegen eines anderen Babys. Ich höre das Schreien eines Babys und denke mir nicht viel dabei, da einige Neugeborenen mit guter und schlechter Verfassung auf Station sind. Da fragt mich der diensthabende Kinderarzt, ob wir das eine Baby füttern können? Welches Baby?, ist meine Frage. Das Baby das schreit! Ich drehe mich um und sehe das asphyktische Baby Schreien vor Hunger!

Total überrascht lächle ich und sage ja, aber nur ganz wenig, um es nicht zu überfordern. Bevor ich nach Hause gehe sehe ich das Baby nochmals an und freue mich, dass ich mich geirrt habe. Drei Tage später wurde das Baby gesund nach Hause entlassen.

Solche Tage sind selten, aber man zehrt von ihnen.

Die Grenzen der Hilfe

Rund eine Woche später haben wir ein Frühchen auf der Station. Die Geburt war relativ unkompliziert, aber das Neugeborene hat nur 1,7kg. Das Baby bekommt Flüssigkeit über die Vene, damit es genügend Zucker und Flüssigkeit erhält, und eine kleine Portionen Muttermilch, damit es gedeihen kann. Normalerweise wird der Anteil der Muttermilch jeden Tag mehr und die Flüssigkeit über die Vene jeden Tag weniger. Das Baby ist auch einmal etwas zu kalt, deshalb messen die Schwestern regelmäßig die Temperatur. Aber der Zustand ist „stabil“, also können wir vorsichtig optimistisch sein.

Dann plötzlich Fieber! Ein Zeichen einer Entzündung. Wir untersuchen das Baby und beschließen, mit Antibiotika zu starten. Am Folgetag die schlechte Nachricht vom Nachtdienst: Der Zustand hat sich verschlechtert. Die Verdauung ist entzündet und funktioniert nicht richtig. Wir ändern das Antibiotikum und ernähren das Kind über die venöse Leitung. Aber das Baby reagiert nicht wie erhofft; es wird von Tag zu Tag schwächer.

Jedes Mal, wenn ich das Frühchen sehe, wünsche ich mir meine „alte“, österreichische Intensivstation zurück. All die Maschinen, das Labor und so weiter. Hier habe ich wesentlich weniger zur Verfügung. Etwas Frust schleicht sich ein. Aber einfach nach Hause zu gehen hilft auch niemanden. Den Eltern erklären wir den Zustand, so gut wir können. Sie danken uns und vertrauen auf Allah. Jedes Mal bin ich überrascht über die Akzeptanz dieser Leute. Sie nehmen viel mehr hin als wir. Sie vertrauen und akzeptieren.

Am Tag Fünf mussten wir ihnen sagen, dass das Baby gestorben ist. Es ist deprimierend, nicht helfen zu können. Aber zum Trauern haben wir nicht viel Zeit, denn die anderen Babys auf Station leben noch und brauchen auch Hilfe. Manchmal kann auch der beste Wille nicht helfen.

Wenn der Überlebenswille siegt

Eines der Babys, das mir immer wieder in Erinnerung kommt, ist eines der ersten Frühchen, die ich auf der Neugeborenen-Intensivstation zu betreuen hatte. Mit gerade einmal 1,5kg erblickte es das Licht der Welt. Das kleine Würmchen starrte mich von der ersten Minute seines Lebens an. Ein Kaiserschnitt wurde durchgeführt, nachdem die Mutter eine Schwangerschaftsvergiftung hatte. Also waren der afghanische Kinderarzt und ich das Empfangskomitee für den Kleinen im Operationssaal.

Die genaue Schwangerschafts-Woche zu bestimmen ist hier eher schwierig, da die meisten Mütter weder den Tag der letzten Menstruation wissen, noch gibt es Vorsorgeuntersuchungen für werdende Mütter. So wird gelegentlich geschätzt, in welcher Woche die Schwangerschaft ist und wie schwer das Neugeborene sein könnte.

Ich wollte das Baby sofort in den Inkubator legen – aber dann fiel mir ein, dass wir so etwas gar nicht haben! Also wurde es auf die Neugeborenen-Station aufgenommen. Täglich befürchtete ich, dass es sich verschlechtert – aber nix! Es brauchte lediglich zwei Tage lang etwas Sauerstoff und Unterstützung beim Trinken. Das kleine Baby beschloss zu wachsen und zu gedeihen. Ich glaube bis heute, dass mich das Würmchen täglich ausgelacht hat und dachte, was will der schon wieder!

Nach ca. drei Wochen wollte die Mutter dann nach Hause. Ich konnte keinen Grund finden, das Baby noch hier zu behalten, also wurde es hübsch zu einem Bündel geschnürt (das ist hier so üblich mit den Babys) und nach Hause entlassen. Ich habe zwar nichts mehr von dem Kleinen erfahren, bin aber zuversichtlich, dass es fröhlich weiter lacht zu Hause und sich wundert, wer dieser Typ in den ersten drei Wochen seines Lebens war, der immer alles wissen wollte.

Solche Geschichten gibt’s hier zu Hunderten, aber an diese erinnere ich mich immer wieder.

So, jetzt sollte ich wieder auf meine Neugeborenen-Station schauen, denn dort wartet sicher bereits die nächste Geschichte oder Überraschung!

Euer Kinder-Doktor
(wie ich hier manchmal genannt werde)

Ärzte ohne Grenzen ist seit 1981 in Afghanistan tätig. Das Team in Dasht-e-Barchi arbeitet eng mit dem Gesundheitsministerium zusammen, um die Entbindungsstation im Bezirkskrankenhaus zu unterstützen. Die Organisation unterstützt auch das öffentliche Krankenhaus in Ahmad Shah Baba in Ost-Kabul und das Boost-Krankenhaus in Lashkar Gah in der Provinz Helmand. In Kundus betreibt Ärzte ohne Grenzen ein Unfallkrankenhaus und in Khost im Osten des Landes eine Mutter-Kind-Station. In allen Einrichtungen bietet Ärzte ohne Grenzen die lebensrettende medizinische Versorgung kostenlos an. Wir akzeptieren für die Arbeit in Afghanistan keine staatlichen Gelder. Die Aktivitäten werden ausschließlich aus privaten Spenden finanziert.

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12.06.2015
11:37
Patricia

Lieber Jakob
Auch ich kenne diese Situationen der Freu aber auch der Trauer. Als Hebamme bei Ärzte ohne Grenzen stehe ich meist mit den Kinderärzten an forderster Front wenn es um Schwangere und Neugeborene geht. Und genau diese Geschichten und Menschen die mich immer wieder berühren halten meinen Spirit und meinen Mut hoch damit ich denen Helfen kann denen es nicht so gut geht wie uns. Danke für das Teilen deiner Erfahrungen.

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