Ein Jahr nach Eskalation des Ukraine-Krieges

20.02.2023
Laura Leyser: "Der Hilfsbedarf ist weiter enorm."

Ärzte ohne Grenzen ist aktuell mit 810 Mitarbeitenden an rund 20 Standorten in der Ukraine im Einsatz. Überall fehlt es den Menschen an Zugang zu Gesundheitsversorgung, viele Krankenhäuser wurden zerstört. In den verbliebenen Einrichtungen mangelt es an Personal und Ausrüstung. Laura Leyser, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Österreich: „Der Konflikt in der Ukraine schwelt seit 2014. Unsere Teams sind daher seit Jahren in der Region im Einsatz. Mit der massiven Eskalation letzten Februar haben wir die laufenden Projekte einstellen müssen und einen Noteinsatz gestartet.“

Die Menschen an den Frontlinien leiden schon seit neun Jahren massiv unter der Situation. „Unsere Teams waren bereits vor der Eskalation des Krieges, am 24. Februar letzten Jahres, in der Ukraine tätig und haben Betroffene medizinisch versorgt, unter anderem haben wir etwa Menschen in Donetsk und Luhansk psychologisch betreut“, berichtet Laura Leyser, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Österreich. „Mittlerweile haben wir leider keinen Zugang mehr zu den russisch kontrollierten Gebieten. In den von der Ukraine zurückeroberten Gebieten sehen wir derzeit einen enormen Hilfsbedarf bei der Bevölkerung. Das bereitet uns Sorge, denn wir können davon ausgehen, dass viele Menschen auch dort Hilfe benötigen würden, wo wir derzeit nicht hingelangen. Unser Anspruch ist und bleibt es, allen Menschen Hilfe zukommen zu lassen.“

Der brutale Krieg in der Ukraine dauert an. Fünf Millionen Menschen sind Binnenvertriebene und leben oft unter prekärsten Bedingungen. Tausende von Menschen, viele von ihnen ältere Menschen oder Menschen mit Behinderungen, wohnen immer noch im direkten Kriegsgebiet in der Nähe der Frontlinien. Sie suchen Zuflucht in Kellern oder hausen in zerstörten Häusern – oft ohne Licht, Heizung, sauberes Wasser, ausreichend Lebensmittel oder Medikamente.

„Im letzten Jahr haben wir unseren Einsatz in der Ukraine laufend evaluiert und je nach Bedarf ausgeweitet“, so Laura Leyser. „Wir sind aktuell mit 124 internationalen und 686 ukrainischen Kolleg:innen an rund 20 Standorten im ganzen Land im Einsatz. Wir arbeiten eng mit Gesundheitseinrichtungen und der lokalen Bevölkerung in der Ukraine zusammen, um die benötigte medizinische Hilfe zu identifizieren und auf den Bedarf zu reagieren. In der Nähe der Frontlinien konzentrieren wir uns aktuell vor allem auf die Versorgung von Patient:innen und sind mit mobilen Kliniken im Einsatz: Oft versorgen wir hier Menschen, die monatelang keinen Arzt gesehen haben. Außerdem unterstützen wir die Evakuierung von Patient:innen mit Krankenwägen und unserem medizinischen Evakuierungszug.“

Die Art der Verletzungen, die die Teams von Ärzte ohne Grenzen in der Nähe der Front sehen, sowie die Geschichten der Patient:innen, zeigen deutlich, dass Zivilist:innen – darunter ältere Menschen und Kinder – vom Krieg in der Ukraine nicht verschont bleiben. Im Westen des Landes arbeitet Ärzte ohne Grenzen daran, das Nötigste für die Vertriebenen bereitzustellen. Viele Menschen, die vor dem Krieg innerhalb des Landes geflohen sind, benötigten dringend medizinische und psychologische Unterstützung. Auch der Bedarf an Physiotherapie und Rehabilitation für die große Anzahl von Menschen, die schwere Verletzungen erlitten haben, ist enorm.

„Unsere Einsätze konzentrieren sich auch darauf, die Lücken nach Bedarf zu schließen. So liefern wir etwa medizinische Hilfsgüter an bestehende Einrichtungen oder organisieren Schulungen für medizinisches Personal in Krankenhäusern. Gerade zu Beginn des Krieges haben Chirurg:innen von Ärzte ohne Grenzen mit Erfahrungen in Kriegskontexten ihre ukrainischen Kolleg:innen in der Versorgung von Kriegsverletzungen trainiert“, beschreibt Leyser von Ärzte ohne Grenzen Österreich den Einsatz der medizinischen Nothilfeorganisation. „Wir arbeiten auch mit Dutzenden lokalen Gruppen von Freiwilligen, die Tausende von Lebensmittelpaketen und Hilfsgütern an abgelegene Orte liefern und mit freiwilligen Fahrern, die Medikamente bis vor die Haustür der Patient:innen in jene Dörfer bringen, wo die Gesundheitsversorgung durch den Krieg zerstört wurde.“

Die Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine erleben einen Mangel an Personal und Ausrüstung. Viele Gebäude wurden beschädigt oder zerstört. „Medizinische Einrichtungen wurden in diesem Krieg nicht verschont, sodass Tausende keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung und lebenswichtigen Medikamenten haben. Und obwohl das ukrainische Gesundheitssystem bemerkenswerte Anstrengungen unternimmt, bleibt die humanitäre Lage katastrophal,” sagt Leyser: “Wir beobachten, dass länger andauernde Kriege wie in Syrien oder im Jemen öffentlich sehr schnell in Vergessenheit geraden. Bereits jetzt sehen wir, wie die Spendenbereitschaft auch für die Menschen in der Ukraine nachlässt –und das, obwohl sie nach wie vor dringendst Hilfe brauchen.“