Die Krankenpflegerin Gianna Falchetto berichtet von ihrem Einsatz in Lashkar Gah, wo sie und ihr Team unter extremem Druck gearbeitet haben, um ein Krankenhaus am Laufen zu halten... 
08.11.2021

In der afghanischen Stadt Lashkar Gah unterstützen wir das Boost Hospital. Es ist eine der größten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen in der Region und verfügt über insgesamt 300 Betten, die von rund 1.000 Personen betreut werden. Ich habe dort als Pflegedirektorin gearbeitet und während der hektischen Tage der Kämpfe im Sommer 2021 in Lashkar Gah gelebt. 

Mein Jahr in Lashkar Gah war ein sehr arbeitsreiches. Jeden Tag konnten wir sehen, welche Folgen die, seit Jahren andauernden, Unruhen für die lokale Bevölkerung haben. Der schlechte Zugang zu medizinischer Versorgung und das Risiko von Reisen führten dazu, dass die Menschen nur dann eine Reise antraten, wenn es wirklich notwendig war. Deshalb kamen die Patient:innen oft erst ins Krankenhaus, wenn ihr Gesundheitszustand bereits sehr ernst war. Durch die jüngsten Kämpfe hatte sich die Sicherheitslage weiter verschlechtert, nachdem wir bereits im Oktober 2020 eine Verschlechterung festgestellt hatten. 

Damals waren etwa 15.000 Menschen auf der Suche nach einem sicheren Aufenthaltsort in die Nachbardörfer geflohen. Viele fanden Hilfe bei ihren Verwandten, während andere eine vorübergehende Unterkunft bezogen. 

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Stig Walravens
Ein Sanitäter untersucht das Röntgenbild eines Patienten, der durch eine Bombenexplosion einen komplizierten Bruch des Ober- und Unterschenkels erlitten hat.

Die Gewalt

Nach einer ruhigeren Phase verschlechterte sich die Lage im Mai erneut. Die Kämpfe wurden wieder intensiver und näherten sich der Stadt. Die Explosionsgeräusche waren sehr laut und die Hubschrauber flogen viel häufiger über den Himmel von Lashkar Gah. 

Die Situation verschlechterte sich so sehr, dass wir gezwungen waren, im Bunker unter dem Krankenhaus zu schlafen. 

Eines Abends, als wir uns für das Abendessen fertig machten, hörten wir eine laute Explosion. Raketen waren auf einige Gebäude in der Stadt abgefeuert worden und kamen unserem Haus, in dem das internationale Team wohnte, sehr nahe. Das war noch nie zuvor passiert und konnte nur ein schlechtes Zeichen sein. Von diesem Moment an eskalierte die Gewalt. 

Die Zusammenstöße wurden sehr schnell schlimmer. Und obwohl unser Krankenhaus zuvor nicht in erster Linie für die Behandlung von Kriegstraumata ausgelegt war, kamen seit Mai immer mehr Patient:innen mit Verletzungen durch Kugeln und Explosionen. 

Nächte im Bunker

Die Situation verschlimmerte sich so weit, dass wir gezwungen waren, im Bunker unter dem Krankenhaus zu schlafen. So konnten wir in der Nähe der Patient:innen und derer, die uns weiterhin brauchten, bleiben. Um uns herum war die Stadt menschenleer. Alle Geschäfte waren geschlossen. Es war so unwirklich. 

Wir verbrachten 12 Tage in dem Bunker. Wir hatten Matratzen auf dem Boden und Decken, damit wir uns so oft wie möglich ausruhen konnten. Auf diese Weise konnten wir weiterhin mit unseren einheimischen Kolleg:innen zusammenarbeiten und die Versorgungssicherheit im Krankenhaus gewährleisten. 

Inmitten dieser Tragödie und dieses Schreckens wurden wir zu einer Familie

Damals änderten sich die Anzahl und die Art der Patient:innen, die wir behandelten. Normalerweise war das Krankenhaus voll von Kindern und Erwachsenen mit schweren Krankheiten. Doch in diesen zwei Wochen waren die meisten Patient:innen Kriegsverletzte. In der Entbindungsstation, wo wir normalerweise etwa 80 Geburten pro Tag durchführten, waren es kaum zehn. 

Auch die Zahl der Mitarbeiter:innen ging zurück. Viele unserer afghanischen Kolleg:innen konnten das Krankenhaus nicht erreichen oder verließen die Stadt, um ihre Familien an sicherere Orte zu bringen. All diejenigen, die blieben, teilten sich den Bunker, wenn sie sich ausruhen mussten. 

Unter dem verbliebenen Personal waren viele Frauen. Sie sagten ihren Familien, dass sie auch weiterhin arbeiten würden, wenn Frauen aus den internationalen Teams vor Ort blieben. Was sie auch taten.   

Die Nächte im Bunker waren nicht immer einfach. In der Dunkelheit schienen die Explosionen noch heftiger als am Tag, aber wir versuchten, uns gegenseitig zu unterstützen. Da das Krankenhaus direkt im Kampfgebiet lag, flogen ständig Kugeln und Granatsplitter auf das Gelände. 

Ich erinnere mich gut an diese Tage. Ich erinnere mich an den ohrenbetäubenden Lärm eines Hubschraubers, aus dem nur wenige Meter vom Krankenhaus entfernt geschossen wurde. Ich erinnere mich auch gut an einen Nachmittag, an dem eine Rakete auf dem Dach des Ambulanzbereichs unseres Krankenhauses einschlug. Ein Ort, der eigentlich sicher sein sollte, war durch die Kämpfe beschädigt worden, wie es auch bei anderen Krankenhäusern in der Umgebung der Fall war. 

Angst und Familie

Alle hatten Angst. Als die Rakete in das Gebäude einschlug, waren ich und andere Krankenpfleger:innen drinnen. 

Ich erinnere mich an das Gebrüll, an die Eile, sich in den Bunker in Sicherheit zu bringen, an die Angst. Ich erinnere mich, dass in diesen schwierigen Momenten plötzlich jemand zum Gebet aufrief und wir alle gemeinsam zu beten begannen. Es herrschte Harmonie, und jeder betete auf seine Weise, dass das Geschehen so schnell wie möglich ein Ende finden möge. 

Tagsüber hielt ich immer wieder an, um mit den Kolleg:innen zu reden. Alle arbeiteten sehr hart, versuchten aber, die Atmosphäre angenehm zu gestalten. Einige erzählten sich Geschichten und machten sogar gemeinsam Witze. Das waren wichtige Momente, die ich wohl nie vergessen werde. 

Ein Zustrom von Patient:innen 

Dann, eines Nachts, war plötzlich alles vorbei. Der ständige Lärm von Schüssen und Granaten hörte auf. In diesem Moment spielte das alles keine Rolle mehr. Wir waren am Leben. Ich war am Leben. 

Eines Nachmittags kehrten wir in unser Haus zurück, das glücklicherweise in den vergangenen Tagen nicht beschädigt worden war. Alles war unversehrt. Wir hatten Glück gehabt. Allein das Duschen und Schlafen in einem richtigen Bett war großartig. 

In den folgenden Tagen arbeiteten wir wieder normal mit dem gesamten Team. Auf den Straßen herrschte wieder reger Betrieb. Jetzt, da die Kämpfe eingestellt worden waren, konnten viele Kranke und Verletzte endlich sicher ins Krankenhaus gebracht werden. Bald war unsere Notaufnahme wieder voll besetzt. 

Wir erreichten Spitzenwerte von 800 Patient:innen pro Tag und bemühten uns, alle Menschen zu behandeln, die tagelang von jeder medizinischer Hilfe abgeschnitten waren. 

Inmitten dieser Tragödie und dieses Schreckens wurden wir zu einer Familie.