Wir sind alle erschüttert.

Ihr habt ja sicher schon von dem Angriff auf Schutzsuchende in einem UN-Schutzgebiet in Malakal im Südsudan gelesen. Daher wollte ich euch kurz Bescheid geben und aus erster Hand von hier berichten.
Kommentar von Marcus Bachmann
09.03.2016

Der Österreicher Marcus Bachmann ist momentan stellvertretender Einsatzleiter in Malakal im Südsudan, wo wir ein Krankenhaus betreiben. Das dortige Lager zum Schutz der Zivilbevölkerung, eine UNO-Schutzzone, wurde vergangene Woche angegriffen – 19 Menschen starben, darunter auch zwei Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen. Im Einsatzblog berichtet aus erster Hand von vor Ort: “Der Umstand, dass bewaffnete Angreifer eine Schutzzone voller schutzsuchender Zivilisten angreifen kann, erschüttert uns alle.“

Es ist erschütternd. Ich bin erschüttert. „I keep working“, ich mache weiter, und es geht gut, weil ich ein gutes Team um mich habe. All das passiert natürlich, wenn mein Einsatzleiter auf Urlaub und ich für drei Wochen allein hier bin.

Ihr habt ja sicher schon von dem Angriff auf das „Protection of Civilians (PoC)“-Camp in Malakal gelesen – in einem Lager zum Schutz der Zivilbevölkerung. Praktisch alle Einsatzzentralen von Ärzte ohne Grenzen haben davon berichtet. Unsere Pressemitteilung wurde ja international groß aufgegriffen, wenn auch nicht so sehr in Österreich. Daher wollte ich euch kurz Bescheid geben und aus erster Hand von hier berichten.

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Die Zerstörung nach dem Angriff in „Sektor 3“ des Vertriebenenlagers in der UNO-Schutzzone.

Nun ist es also passiert, die größte anzunehmende Katastrophe: Zwei Kollegen aus dem Südsudan sind bei dem Angriff getötet worden. Ein weiterer wurde verletzt. Der Angriff begann am Mittwoch dem 17. Februar um 22:30 Uhr, unsere Kollegen waren “zu Hause” bei ihren Familien in den Notunterkünften im Vertriebenenlager. Zumindest einer unserer Kollegen, Abraham, wurde gezielt von den bewaffneten, mutmaßlich uniformierten Angreifern, die das Lager attackierten, getötet, als er versuchte, Schwerverletzte zu bergen und in unsere Notaufnahme zu tragen. Abraham, Leiter unserer Community-Aktivitäten, war schon lange bei uns, und als die Schießerei losging, versuchte er sofort, anderen beizustehen. Drei unserer Kollegen wurden Augenzeugen, wie er und andere, die Verletzten helfen wollten, oder die Brände, die die Soldaten legten, löschen wollten, gezielt erschossen wurden. Peter, ein Wachmann, wurde ebenfalls durch Schüsse getötet. Die genauen Umstände sind nicht bekannt.

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Patronenhülsen vor unserer Klinik im „Sektor 2“ des Vertriebenenlagers in Malakal.

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Vertriebene suchen Zuflucht vor den Kämpfen in unserem Krankenhaus am Gelände des Lagers

Das Team in Malakal ist geschockt, Abraham und Emmanuel waren sehr geschätzte Kollegen, vor allem auch unter unseren einheimischen Mitarbeitern. 97% unserer südsudanesischen Kollegen hier in Malakal sind ja selbst Flüchtlinge, die im Lager leben. Der Umstand, dass bewaffnete Angreifer eine Schutzzone voller schutzsuchender Zivilisten angreifen kann, erschüttert uns alle.

Das Resultat ist erschütternd. In unserem Spital zählten wir in den ersten 24 Stunden 16 Tote, mit unseren zwei Kollegen sind es 19. Das ist die Zahl, die in den Medien kursiert. Ein weiterer Patient verlor zwei Tage später in unserem Krankenhaus sein Leben.

Unser Krankenhaus blieb als einzige medizinische Einrichtung intakt. Wir konnten selbst nicht glauben, dass nach unseren beiden kurzfristigen Evakuierungen – zweimal für je zwei Stunden – nicht alles abgebrannt und geplündert war. Nicht einmal die Apotheke war geplündert. Die Menschen hier scheinen auf “ihr” Spital aufzupassen. Alle anderen Gesundheitseinrichtungen von IMC (International Medical Corps) und IOM (International Organisation of Migration) wurden vollkommen zerstört.

Das Ausmaß der Zerstörung ist unfassbar, geschätzte 2/3 des Lagers sind abgebrannt bzw. zerstört:

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Das Ausmaß der Zerstörung in „Sektor 2b“ des Lagers.

In den ersten Nächten suchten über 40.000 Menschen Schutz in der logistischen Basis von UNMISS (United Nations Mission in South Sudan), wo sie sich ein wenig besser “geschützt” fühlten. Es ist so eng, dass Menschen dort nur sitzend Platz fanden.

Das Team in Malakal leistet einen unfassbar tollen Job, alle arbeiten unter unfassbaren Bedingungen. Nach 5 Tagen sind sie aber am Rande des Kollapses. Am Freitag musste ich das Team in Malakal auf das Notwendigste reduzieren. Mit unserem Ärzte ohne Grenzen-Helikopter flogen wir alle nicht essentiell wichtigen Teammitglieder aus. Zugleich musste ich das Team von Wau Shilluk, das auf der anderen Seite des Nils vis-à-vis von Malakal in einem nicht von der Regierung kontrollierten Gebiet liegt, evakuieren. Gott sei Dank haben mir die belgischen Kollegen von Ärzte ohne Grenzen ihr Flugzeug geborgt. Und zugleich haben wir in Kollaboration mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz sechs Schwerstverletzte ausgeflogen, damit sie operiert werden konnten. Alle haben überlebt, doch leider hat ein junger Mann sein Bein verloren.

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Eines der Gates nach der Evakuierung

Bisher haben nur der UN-Weltsicherheitsrat und die EU dazu gefordert, diesen Angriff als mögliches Kriegsverbrechen zu untersuchen.

Es scheint, dass ich allzu oft bei meinen Einsätzen nicht mit guten Nachrichten aufwarten kann. Es ist traurig, vor allem für unsere Kollegen, deren Heimatland das ist.

Liebe Grüße,
Marcus 

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10.03.2016
18:19
Dieter Giersch

Da frage ich mich doch - warum geht ihr da hin?
Es wird doch in jenen Gegenden nie Ruhe sein.
So weit ginge mein Mitgefühl nicht, um da helfen zu wollen.
Lasst sie sich doch abschlachten - ohne mich.

Es gibt doch genug andere Gelegenheiten, Katastrophen, bei denen Hilfe einen wirklichen Sinn macht.

11.03.2016
15:54
hanna.spegel

Sehr geehrter Herr Giersch, Danke für Ihren Kommentar - Ärzte ohne Grenzen leistet dort Hilfe, wo das Leben von Menschen durch Konflikte, Epidemien oder Katastrophen gefährdet ist. Die Leidtragenden von blutigen Bürgerkriegen wie im Südsudan sind immer Zivilisten, Hunderttausende sind dort ohne medizinische Versorgung. Deshalb sehen wir es als unsere Pflicht, auch dort zu helfen, wo sonst niemand ist. Denn jeder Mensch in Not hat das Recht auf Hilfe. Schöne Grüße, Hanna Spegel (Web Team / Ärzte ohne Grenzen Österreich)

23.06.2016
13:49
Sandra Steiner

Und genau deshalb weil das Mitgefühl vieler Menschen nur soweit geht wie ihrs, Herr Giersch, oder vielleicht noch etwas weniger weit, genau deshalb sieht die Erde so aus wie sie jetzt aussieht (Ich sag nur Fracking, Mountaintop Removal, Strahlenkinder von Basra etc.) und genau deshalb sitzen Millionen von Menschen in Schlamm und Dreck, verhungern oder sterben an heilbaren Krankheiten... Zum Thema "Wie weit geht unser Mitgefühl" noch zwei Zahlen: "Wir" spenden in Deutschland ca. 5 Mrd. für gemeinnützige Zwecke - "wir" geben aber ca. 50 Mrd. für Alkohol und Zigaretten aus. Wenn ich es könnte, würde ich gerne einfach aus dieser zutiefst schizophrenen Welt und Gesellschaft aussteigen. Glücklicherweise gibt es Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, die mutig in diesem Wahnsinn versuchen, Menschlichkeit, Mitgefühl, Ehrfurcht vor dem Leben zu bewahren und durchzusetzen - und auch die sog. "hoffnungslosen Fälle" NICHT aufgeben - oft unter Einsatz von Leib und Leben. Ich kann nur sagen: Danke, Danke, Danke - weiter so. Hoffentlich werden wir noch viel mehr mitfühlende und mutige Menschen! Dann stehen vielleicht irgendwann mal die 50 Mrd. für die Rettung von Leib und Leben zur Verfügung, anstatt für die Vernebelung der Gehirnwindungen und die Selbstbehandlung allgegenwärtiger Schizophrenie...

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