Anhaltende Not in Gaza

24.12.2009
Ein Jahr nach der Militäroffensive hat sich die Gesundheitsversorgung in Gaza weiter verschlechtert

Vor einem Jahr, am 27. Dezember 2008, begann die israelische Militäroffensive "Gegossenes Blei". Intensiven Luftangriffen und Bombardierungen folgte am 3. Januar 2009 eine Bodenoffensive der israelischen Armee. Der Krieg in Gaza dauerte 22 Tage. Fast 1.300 Menschen wurden dabei getötet, darunter 900 Zivilisten und unter diesen 300 Kinder. 5.300 Menschen wurden verletzt.

Die Probleme des palästinensischen Gesundheitssektors in Gaza sind nach der Gewalt vor einem Jahr noch schwerwiegender geworden - sie bestanden aber bereits vorher.

Aus der Sicht von Ärzte ohne Grenzen verschlechtert sich die Situation in Gaza aufgrund politischer und wirtschaftlicher Faktoren weiter. Neben der jahrelangen Gewalt durch den israelisch-palästinensischen Konflikt, haben auch andere Ereignisse heute noch direkte und indirekte Auswirkungen und tragen zur Verschlechterung der Lage bei:

Im Jahr 2008 wurde das Wirtschaftsembargo verschärft, speziell in Bezug auf Strom und Benzin. Die Blockade verhindert den Wiederaufbau nach dem Krieg.  Im Sommer 2007 wurden im Rahmen interner palästinensischer Kämpfe Krankenhäuser zum Ziel und zwangen das medizinische Personal zum Streik. Humanitäre Hilfe wurde zurückgewiesen und die Gesundheitsversorgung blockiert.

Weitere Verschlechterung der Gesundheitsversorgung 

Der Zugang zu angemessener medizinischer Hilfe hat sich im vergangenen Jahr weiter verschlechtert. Der Großteil des medizinischen Materials steht nur unzuverlässig zur Verfügung, die Handelsblockade verhindert, dass bestimmte Ersatzteile eingeführt werden können. Gleichzeitig sehen sich medizinische Einrichtungen mit fehlenden Medikamentenvorräten konfrontiert.

Während des Krieges im Januar 2009 wurden mehr als 5.000 Menschen verletzt. Viele sind seitdem behindert, und das einzige Rehabilitationszentrum im Gaza-Streifen hat Schwierigkeiten, Material zu bekommen, um beispielsweise künstliche Hüften herzustellen. Blindgänger töten und verletzen weiterhin Menschen. Zudem gibt es nur einen plastischen Chirurgen in Gaza, der kaum alle benötigten Behandlungen durchführen kann.

Es wird geschätzt, dass 40 Prozent der Patienten mit chronischen Krankheiten während der Angriffe im Januar keinen Zugang zu medizinischer Hilfe hatten, da die Priorität auf lebensrettender Nothilfe lag. Dies führte zu langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen.

Patienten, die im Gazastreifen nicht behandelt werden können, sollten außerhalb der besetzten Gebiete versorgt werden. Die Genehmigungen für die Reisen sind aber schwer zu bekommen - auf israelischer wie auf palästinensischer Seite - sodass Menschen Gaza nicht rechtzeitig verlassen können, um ihre Termine wahrzunehmen. 

Psychologischen Auswirkungen der Operation "Gegossenes Blei" 

"Es ist schwierig, die psychologischen Auswirkungen der Operation ‚Gegossenes Blei' zu ermessen. Unsere psychologischen Mitarbeiter müssen auf eine Welle von Anforderungen reagieren", erklärt Jean-Luc Lambert, Landeskoordinator von Ärzte ohne Grenzen für die Palästinensischen Autonomiegebiete. Kinder sind besonders betroffen und häusliche Gewalt ist zu einem Problem geworden. "Der Mangel an sicheren Unterkünften während des Krieges und die ständige Schließung der Grenzen hat die Bevölkerung zu Gefangenen gemacht und sie der Schutzlosigkeit ausgeliefert. Die Menschen haben das Gefühl für Sicherheit verloren, aber genau das wäre für ihr psychisches Wohlbefinden wichtig." Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass zwischen 20.000 und 50.000 Menschen durch die Angriffe Langzeitschäden davongetragen haben.

Die wirtschaftliche Krise: Arbeitslosigkeit von 50 Prozent

Die Lebensgrundlage der Menschen in Gaza wurde in den vergangenen Jahren systematisch zerstört, besonders im Januar. Viele kleine Unternehmen und private Häuser wurden dem Erdboden gleich gemacht oder schwer beschädigt. Die Vereinten Nationen (UN) schätzen den Gesamtschaden auf 139 Millionen US Dollar. 140.000 Menschen sind heute in Gaza arbeitslos, das sind 50 Prozent der Bevölkerung. Im Jahr 2007 waren es 32 Prozent. "Diese Zahlen sind mit die höchsten weltweit. Jeder, der arbeitet, muss durchschnittlich sechs oder sieben Familienmitglieder versorgen. 70 Prozent der Familien leben von weniger als einem US-Dollar am Tag. 75 Prozent der Bevölkerung, das sind etwa 1,1 Millionen Menschen, sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen", so Lambert. 

Mangel an Strom, Wasser und sanitären Einrichtungen

Wichtige Strom- und Wasserinfrastruktur wurde während der Operation "Gegossenes Blei" teilweise zerstört. Es gibt in Gaza nur noch ein Kraftwerk. 60 Prozent der benötigten Energie wird in Israel und Ägypten zugekauft. Stromausfälle, die zwischen vier und acht Stunden dauern, passieren jeden Tag, und zehn Prozent der Bevölkerung hat überhaupt keinen Strom. Auch das Wassersystem ist sehr anfällig. 90 Prozent des Wassers für die Bevölkerung in Gaza entspricht nicht den WHO Standards für Trinkwasser. Entsprechend nehmen Krankheiten, die durch verunreinigtes Wasser entstehen, zu.

"Die Handelsblockaden müssen dringend aufgehoben werden. Es mangelt an allem, einschließlich Büchern und Stiften. Krankenhäuser und Schulen haben keine Fenster und Dächer. Alles muss wieder aufgebaut werden - Häuser, Gesundheitseinrichtungen und öffentliche Gebäude. Nur dann wird die Bevölkerung in der Lage sein, ihre Leben wieder aufzubauen - psychisch wie physisch", sagt Lambert.

Sauberes Trinkwasser ist eine Voraussetzung zum Überleben und zur Vermeidung von Krankheiten. Mitarbeiter bohren Brunnen, organisieren Wassertransporte oder pumpen Flusswasser ab und entkeimen es, meist mit Chlor. Mindestens fünf Liter pro Tag braucht ein Mensch im Flüchtlingslager zum Überleben, Ziel sind jedoch mindestens 20 Liter zum Trinken, Waschen und Kochen.

Aktivitäten von Ärzte ohne Grenzen

Ärzte ohne Grenzen arbeitet seit dem Jahr 2000 in Gaza und hat derzeit 126 palästinensische und acht internationale Mitarbeiter vor Ort.

In der Westbank leistet Ärzte ohne Grenzen in den Städten Hebron und Nablus psychologische, medizinische und soziale Hilfe für die Menschen, die unter den Folgen des israelisch-palästinensischen Konflikts und dem internen Konflikt in Palästina leiden. Die Mitarbeiter bieten psychologische Hilfe an, um das seelische Leid zu mindern. Die psychologischen Teams überweisen Patienten auch an Ärzte und Sozialarbeiter von Ärzte ohne Grenzen und u.a. an Gesundheitseinrichtungen. Die Zahl der Patienten hatte in den Monaten März und April 2009 - wahrscheinlich als Folge der Militärintervention im Gazastreifen - zugenommen. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen haben in den ersten sechs Monaten dieses Jahres nahezu 700 psychologische Behandlungen durchgeführt. Ende Mai 2009 hat das Team in Nablus 71 Patienten betreut, von denen 80 Prozent Frauen und Kinder waren.