Libanon: Schwangere Flüchtlinge aus Syrien wissen oft nicht wohin

06.08.2013
Ein Projekt für reproduktive Gesundheit für syrische Flüchtlinge

„Als ich im Libanon ankam, war ich im siebten Monat schwanger“, sagt die 18-jährige Maryam, eine geflüchtete Syrerin aus Aleppo. „Zuhause wurden viele meiner Verwandten getötet. Ich hatte panische Angst. Stundenlang musste ich marschieren, bis ich endlich die libanesische Grenze überquerte. Ich begann zu bluten und befürchtete eine Fehlgeburt.“

Im April 2013 starteten Teams von Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Libanon ein Projekt für reproduktive Gesundheit. Sie entsprachen damit einem großen Bedürfnis unter den Flüchtlingen in der Bekaa-Ebene, einem Hauptanlaufpunkt für syrische Flüchtlinge im Libanon. „Viele Frauen kommen alleine hier an. Sie haben keine Familie oder Ehemänner dabei, weil diese im Krieg getötet worden sind“, sagt die für das Projekt verantwortliche Hebamme Marjie Middleton. „Manche von ihnen sind schwanger, sind aber während ihrer gesamten Schwangerschaft nie medizinisch untersucht worden. Weil diese vorgeburtliche Versorgung fehlt, wissen sie nicht, ob es ihrem Baby gut geht. Sie sind sehr besorgt. Diese Verbindung von psychischem und physischem Stress ist in der Schwangerschaft besonders gefährlich.“

Zugang zu sicheren und bezahlbaren Entbindungsmöglichkeiten fehlt

Im Libanon kennen viele Flüchtlinge niemanden, weshalb es für sie schwierig ist, Hilfe von den Menschen vor Ort zu erhalten. „Viele schwangere Frauen wissen nicht, wohin sie gehen sollen“, sagt Middleton. „Wir haben von Frauen erfahren, die ganz alleine in einem Zelt gebären mussten. Solche Berichte erschüttern mich als Hebamme besonders, weil ich die Gefahren kenne und weiß, wie schrecklich es für eine Mutter sein muss, bei der Geburt völlig allein und verängstigt zu sein.“

Auch die Kosten spielen eine Rolle. Sogar für die libanesische Bevölkerung ist die vorgeburtliche Versorgung im Libanon extrem teuer. „Für einen Arztbesuch, ein paar Vitamine und den Transport muss eine Frau umgerechnet 20 US-Dollar bezahlen“, erklärt Middleton, „was oft die Hälfte oder mehr ist, von dem was ein Tagelöhner in der Woche verdient.“

Das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) übernimmt zurzeit 75 Prozent der Geburtskosten von syrischen Flüchtlingen, ungeachtet deren Registrierungsstatus. Früher hatte das UNHCR sogar die ganze Rechnung bezahlt, musste den Betrag aber kürzen, weil nicht mehr genügend Mittel zur Verfügung standen. Viele Flüchtlinge können sich diese 25 Prozent nicht leisten. Außerdem gibt es in der Bekaa-Ebene nur sechs Spitäler, die vom UNHCR unterstützt werden und in denen Frauen gebären können.

Eine normale Geburt kostet etwa 50 US-Dollar, während ein Kaiserschnitt mit 200 US-Dollar zu Buche schlägt. „Eine Flüchtlingsfrau, die nicht bezahlen kann, riskiert, dass ihr kein Zutritt zum Spital gewährt wird oder dass ihre Flüchtlingskarte eingezogen wird. Somit erhält sie auch keine Essensscheine, bis sie ihre Spitalrechnung bezahlen kann“, sagt Middleton.

Schlechte Lebensumstände gefährden die Schwangerschaft

Ohne gute Geburtshelfer ist eine Hausgeburt generell mit hohen Risiken verbunden. In den Gegenden, in denen die meisten Flüchtlinge leben, sind die Gefahren noch größer. „Wir sehen bei unseren Patientinnen viele gynäkologische Infektionen. Die Gründe dafür liegen in mangelnder medizinischer Versorgung in der Schwangerschaft, begrenztem Zugang zu Wasser und schlechten hygienischen Verhältnissen“, sagt Middleton. Beispielsweise wurde von Fällen wässrigen Durchfalls berichtet. „Die Infektionen gehören zu den Hauptgründen für Frühgeburten. Ein anderes großes Problem ist die schlechte Ernährung“, fügt sie an. „Viele Flüchtlingsfrauen können sich nicht einmal die Grundnahrungsmittel leisten. Das kann das Wachstum des Babys und die Gesundheit der Frau beeinträchtigen. Ich habe sogar mangelernährte Neugeborene gesehen.“

Ärzte ohne Grenzen sieht vor, gemäß den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in jeder Schwangerschaft vier Untersuchungen durchzuführen und die Frauen bei Bedarf für eine kostenlose Behandlung an einen Gynäkologen zu verweisen. Neben den vorgeburtlichen Konsultationen bei erfahrenen Hebammen sucht Ärzte ohne Grenzen auch nach Orten für sichere Geburten. Die Schwangeren, die neu im Libanon sind, werden von den Teams über mögliche Gefahren aufgeklärt und erfahren mittels Geburtsplänen, was sie tun müssen, wenn die Wehen beginnen oder Probleme auftauchen.

„Einige Frauen sind mit Wehen in unsere Kliniken gekommen. Wir sind bereit für Notfälle, aber eigentlich möchten wir die Geburten in unseren Einrichtungen nicht fördern“, sagt Middleton. „85 Prozent der Geburten verlaufen zwar normal, aber trotzdem ist ein Spital sicherer, falls Komplikationen auftreten.“

Nachgeburtliche Versorgung und Familienplanung decken Bedürfnisse ab

Nach der Geburt sind Mutter und Kind immer noch in Gefahr. Deswegen bietet Ärzte ohne Grenzen nachgeburtliche Versorgung und Möglichkeiten der Familienplanung. „Wir möchten, dass die Frauen nach der ersten und nach der sechsten Woche für eine Schlussuntersuchung zu uns kommen. Bei dieser Gelegenheit können sie auch mit der Verhütung beginnen, wenn sie das möchten“, sagt die Hebamme. Das Interesse und die Nachfrage nach Familienplanung entsprechen einem grossen Bedürfnis, denn viele Frauen möchten unter den schwierigen Umständen nicht schwanger werden.

„Mein Mann und ich wollen im Moment kein weiteres Kind, weil die Lage in Syrien unerträglich ist und wir uns auch im Libanon sehr unsicher fühlen“, sagt Maryam, eine Frau, die mit ihrem zwei Monate alten Baby in die Klinik in Baalbeck kam, um die Pille zu erhalten.

Vielen Frauen stand auf ihrer Flucht aus Syrien oder im Libanon keine Verhütungsmöglichkeit zur Verfügung, weil zu wenige Informationen vorhanden oder die Kosten zu hoch waren. Ärzte ohne Grenzen bietet den geflüchteten Frauen auch allgemeine Gesundheitsversorgung bei Infektionen oder Krankheiten, die sexuell übertragen werden und anderen gynäkologischen Gesundheitsproblemen.

Ärzte ohne Grenzen betreibt in der ostlibanesischen Bekaa-Ebene seit April 2013 drei Kliniken für reproduktive Medizin. Erfahrene libanesische Hebammen haben bis Ende Juni beinahe 850 Konsultationen durchgeführt. In der Klinik von Ärzte ohne Grenzen im Spital Dar al Zahraa in Tripoli, Libanons zweitgrösster Stadt, bot das Programm zur reproduktiven Gesundheit den syrischen Flüchtlingen mehr als 450 Untersuchungen. Seit Januar 2013 bietet Ärzte ohne Grenzen auch Familienplanungsdienste und führte zu diesem Thema bis Ende Juni 118 Konsultationen durch.