Niger: Ein Land zwischen zwei “Hungerzeiten“

31.01.2011
Auch 2011 droht ein schwieriges Jahr für die Menschen zu werden

Themengebiet:

Niger 2011
Christophe Stramba
Zinder, Niger, 03.08.2010: Vor der Aufnahme in das Ernährungsprogramm werden die Kinder gemessen und gewogen.

Trotz der großangelegten Reaktion von Ärzte ohne Grenzen und vielen anderen Organisationen auf die Ernährungskrise in Niger, litten im Jahr 2010 Zehntausende Kinder unter Mangelernährung. Das Jahr 2011 steht trotz besserer Ernten unter einem schlechten Stern. Eine Reise nach Zinder, einer Region im Osten des Landes.

Vor gut einhundert Jahren hat der Vater des heute achtzigjährigen Salouf Kina das kleine Dorf Guéza gegründet. Es liegt drei Stunden östlich von Zinder, der ehemaligen Hauptstadt Nigers und ist nur über eine Schotterpiste zu erreichen. „Er war auf der Suche nach neuen Weideplätzen für seine Kühe und hat sich mit seiner Familie hier niedergelassen. Damals gab es noch ausreichend Weideflächen und Wasser. Ich wohne seit meiner Geburt hier und dieses Jahr [2010] war das schlimmste, das ich je erlebt habe“, erzählt er mit zitternder Stimme. Heute gleicht Guéza mit seinen 2.000 Einwohnern und Einwohnerinnen einem Flickwerk aus braunen Lehmhütten und versandeten Straßen, an denen ein paar wenige Bäume kostbaren Schatten spenden. Die nach der letzten Ernte schlecht geräumten Hirsefelder in der Umgebung wirken verwahrlost.

Salouf Kinas Sohn Aboukar ist mit über fünfzig Jahren einer der Dorfältesten und zugleich Oberhaupt des Viertels. Er erzählt von den schrecklichen Hungermonaten, welche die Einwohner und Einwohnerinnen Guézas 2010 durchlebten: „Die Ernten waren Ende 2009 sehr schlecht und einige Familien konnten aufgrund der Dürreperiode überhaupt keine Ernte einbringen. Als die Menschen ihre Reserven aufgebraucht hatten und sich auch nichts mehr leihen konnten, mussten sie das Dorf verlassen. Zuerst suchten die jungen Männer Arbeit in Nigeria, dann gingen ganze Familien weg. Zwischen Mai und September war die Hälfte der Dorfbevölkerung geflüchtet und es blieben nur noch Frauen, Kleinkinder und alte Männer“, erklärt er uns. „Das Dorf ist zu weit entfernt und niemand interessiert sich für uns. Wenn Ärzte ohne Grenzen im Gesundheitszentrum nicht ein Ernährungszentrum eingerichtet hätte, wären wir alle gegangen und das Dorf wäre heute vielleicht ausgestorben …“.

Gesundheitszentren, Ernährungszentren, Intensivzentren

Das Gesundheitszentrum von Guéza ist eines der wenigen Gebäude aus Zement im Dorf. Wir werden vom jungen Mamane Bashir empfangen, der für das Zentrum verantwortlich ist. Zu dieser Zeit, Ende Dezember, kommen nur wenige Patienten zu uns. Ärzte ohne Grenzen hat sein ambulantes therapeutisches Ernährungszentrum für schwere Mangelernährung (CRENAS) inzwischen abgebaut. Es ist nur schwer vorstellbar, dass das Team von Ärzte ohne Grenzen hier vor nur drei Monaten fast 300 Kinder gleichzeitig behandelte. „Die Regenzeit setzte sehr früh ein und die schwächsten Kinder litten nicht nur unter Mangelernährung, sondern auch an Malaria. Im August haben wir knapp 600 Kinder betreut, sechsmal mehr als im Vorjahr. Das hängt auch mit der Präsenz von Ärzte ohne Grenzen zusammen; die Organisation stellte die durchgehende Versorgung mit Medikamenten und therapeutischen Nahrungsmitteln sicher“, so Mamane Bashir.

In Zinder und Magaira, den grössten Städten dieser Region des Niger, belegten Ende Dezember insgesamt noch fast 200 Kinder die Betten der CRENI, die von Ärzte ohne Grenzen eingerichteten Intensivzentren für die schwersten Fälle von Mangelernährung. Doch jetzt erscheinen die Räume dieser Zentren, diese großen Zelte, in denen Dutzende von Betten aneinandergereiht sind, merkwürdig leer. Kaum zu glauben, dass am Höhepunkt der Ernährungskrise im August und September hier über 800 Kinder behandelt wurden – die meisten von ihnen dem Tod näher als dem Leben.

Nur wenige Handvoll Hirse

Die 32-jährige Kelima, Mutter von vier Kindern, hat Anfang Dezember ihren 15 Monate alten Letztgeborenen, Djamilou, ins CRENI gebracht. Er hatte stark abgenommen. Der Arzt diagnostizierte eine schwere Blutarmut und Malaria. Djamilou erhielt sofort Infusionen und wurde danach mit therapeutischer Zusatznahrung behandelt. Langsam hat er wieder zugenommen und zwei Wochen später lächelt er wieder und zappelt freudig mit seinen Händen, wenn man mit ihm spricht. „Wir werden bald wieder ins Dorf zurückkehren können“, zeigt sich Kelima erleichtert. „Doch in diesem Jahr war es wirklich schwierig, die Kinder zu ernähren. Es blieben nur wenige Handvoll Hirse für die ganze Familie…“.

„2010 hat leider alle Rekorde gebrochen“, betont Dr. Moïse Moussa Gabrial, Verantwortlicher des CRENI in Magaria. „Seit Jänner 2010 haben wir über 6.200 Kinder aufgenommen. Ende August waren fast 500 Kinder gleichzeitig in Behandlung. Wir hatten zwar vorausschauend bereits neue Mitarbeiter eingestellt und ausgebildet, jedoch hat die Situation unsere schlimmsten Erwartungen übertroffen. Wir mussten vor Ort weitere Mitarbeiter suchen und ausbilden. Am Höhepunkt der Krise arbeiteten 280 Personen für Ärzte ohne Grenzen im CRENI. Und tragischerweise mussten wir auch den Tod zahlreicher Kinder miterleben, allein 133 im September, die hoffnungslos mangelernährt waren und meist auch an Malaria litten.“

Auch 2011 kann schwierig werden

Und das, obwohl 2010 das Jahr einer beispiellosen Mobilisierung zur Prävention der Hungersnot in Niger war. Der Regierung, die Anfang des Jahres aus einem Staatsstreich hervorging, lag die Nahrungssicherheit besonders am Herzen und sie bat die internationalen Organisationen um Hilfe. Unter diesen befand sich auch Ärzte ohne Grenzen. Die Organisationen konnten die Gesundheitseinrichtungen verstärken und umfangreiche Präventionsstrategien einleiten, insbesondere in Form von geeigneter Zusatznahrung. Dadurch konnte das Schlimmste verhindert werden.

„Wir stellen uns lieber nicht vor, was ohne diesen Einsatz geschehen wäre“, so Patrick Barbier, Landeskoordinator von Ärzte ohne Grenzen im Niger. „Wir sind besorgt darüber, dass auch das Jahr 2011 trotz der guten Ernte des Vorjahres sehr schwierig werden könnte. Die Menschen leben in großer Armut und haben oft keinen ausreichenden Zugang zur Gesundheitsversorgung. In den meisten Gebieten sind die Familien stark verschuldet und müssen heute, in der Zeit nach der Ernte, für zwei geliehene Einheiten Hirse drei bis vier Einheiten zurückzahlen. Und die zu Beginn des Jahres noch ansehnlichen Herden sind oft auf einige wenige Ziegen und Schafe geschrumpft. Die internationalen und humanitären Organisationen müssen auch 2011 aufmerksam bleiben und sich auf einen weiteren umfangreichen Hilfseinsatz einstellen.“

Salouf Kinas Enkelsohn, Aboukars Sohn, ist soeben 20 Jahre alt geworden. Er hat bereits die ernsten Gesichtszüge eines alten Mannes. In ein paar Tagen bricht auch er auf, um in den Straßen Nigerias Tee zu verkaufen. Damit sichert er seiner Familie das Überleben im Dorf von Guéza und gibt Ihnen die Hoffnung auf ein besseres Leben.

Von Philippe Latour, Kommunikationsreferent bei Ärzte ohne Grenzen.