Niger: Zehn Jahre medizinische Hilfe für Kinder

23.12.2015
Innovative Strategie zur Behandlung schwerer, akuter Mangelernährung wird seit 2005 umgesetzt: "Damit Kinder gesund aufwachsen können!"
PPCSI in Tama, Niger
Juan Carlos Tomasi/MSF
Since last March, MSF is implementing a preventive and curative comprehensive care package programme (known by its French acronym as PPCSI) in Tama area, Bouza district, in the region of Tahoua. The main objective of the programme is to provide comprehensive healthcare for all the children under 24 months old, with a special focus on the main causes of infant mortality: malaria, malnutrition, respiratory infections and diarrhoea.

Im Jahr 2005 setzten wir erstmals in großem Umfang eine innovative Strategie ein, um Kindern dabei zu helfen, gesund aufzuwachsen: Die Behandlung von schwerer, akuter Mangelernährung wurde nicht mehr in Krankenhäusern, sondern Zuhause durchgeführt. Heute, zehn Jahre später, geht dieser Ansatz im Rahmen der öffentlichen Gesundheitsversorgung Hand in Hand mit dem Kampf gegen andere tödliche Krankheiten.

Rahi Harouma ist 40 Jahre alt und lebt in Keleme. Das kleine Dorf liegt in der Region Bouza im südlichen Niger. Es ist bereits November und die Familie hat das meiste ihrer Ernte eingefahren. „Die Ernte war heuer normal“, erklärt Rahi, die im Garten vor ihrem Haus sitzt. Ihre älteren Töchter mahlen inzwischen etwas Getreide für das Mittagessen.

Es ist die wichtigste Ernte des Jahres – die meisten Familien in Niger hängen von ihr ab, um überleben zu können. Immer wieder treten im Land Ernährungskrisen auf, besonders zwischen Juni und Oktober. In dieser Zeit werden die Nahrungsreserven knapp, bis wieder die nächste Ernte bevorsteht. Die jüngsten Kinder sind die ersten, die unter den Folgen zu leiden haben.

Kinder sollen gesund aufwachsen können

Der Ehemann von Rahi ist Bauer, sie leben gemeinsam mit ihren sechs Kindern unter einem Dach. Der jüngste heißt Adbousidi und ist gerade sechs Monate alt. „Mit Adbousidi ist alles einfacher. Ich bringe ihn zum Gesundheitszentrum, damit er gesund aufwachsen kann”, so Rahi. Der Posten in Keleme ist eine von sechs Einrichtungen in der Region Tama. Hier hat Ärzte ohne Grenzen ein Projekt gestartet, im Rahmen dessen die Hauptursachen von Kindersterblichkeit behandelt werden – auch vorbeugend. Eine davon ist Mangelernährung.

Rahi bringt ihr Baby einmal monatlich zur Kontrolle in das Gesundheitszentrum. Der dortige Gesundheits-Beauftragte überprüft, ob sich das Kind so entwickelt, wie es sollte. Es werden auch nötige Impfungen durchgeführt und kleine Packungen an therapeutischer Fertignahrung verteilt: Eines pro Tag, für Kinder im Alter von sechs Monaten bis zu zwei Jahren. Diese Nahrung beinhaltet Nährstoffe, die genau darauf abgestimmt sind, Kinder vor Mangelernährung zu bewahren.

3.200 Kinder in Gesundheitsprogramm

„Derzeit sind rund 3.200 Kinder in diesem Programm – also nahezu die gesamte Bevölkerung im Alter von unter zwei Jahren in dieser Region“, erklärt Emmanuel Goumou, Leiter unseres Programms. „Bald wird mit unserem umfassenden Gesundheitsversorgungspaket PPCSI für all diese Kinder auch eine komplette medizinische Versorgung zur Verfügung stehen.“

Dieses Gesundheitsprogramm wurde vergangenen März gestartet – genau zehn Jahre nach der schweren Ernährungskrise, die 2005 im Niger ausbrach. Das Projekt ist ein Beispiel dafür, wie sich der Kampf gegen Mangelernährung in dieser Dekade verändert hat.

Nines Lima ist unser Berater für Malaria und war 2005 im Niger der medizinische Koordinator: „Die Notsituation hatte riesige Ausmaße, und Ärzte ohne Grenzen arbeitete in den am schwersten betroffenen Gebieten. Ich war in Ouallam in Tillabéri, wo wir aufgrund der großen Zahl mangelernährter Kinder bis Dezember beschäftigt waren. Wir gingen dann weiter nach Madaoua und Bouza in der Region Tahoua. Dort gab es ebenfalls viele Fälle an Mangelernährung, und niemanden, der sich um die Bedürfnisse dort kümmerte. Wir sind dort heute noch immer tätig.“

Erstmals therapeutische Fertignahrung für Zuhause

Im Jahr 2005 wurde erstmals in großem Umfang therapeutische Fertignahrung eingesetzt, die sofort verabreicht werden kann. Dank ihr lässt sich schwere akute Mangelernährung ohne medizinischen Komplikationen auch Zuhause behandeln. Mehr als 69.000 Kinder erhielten diese Nahrung damals. Schwere Fälle mit Komplikationen wurden stationär betreut: „Ich war sehr beeindruckt von den Intensiv-Ernährungszentren, die ich in Zinder besuchte. Dort wurden mangelernährte Kinder mit Komplikationen betreut, denn es gab sehr viele von ihnen – mehr als 600 in zwei Zentren. Es war wie eine Stadt voll kranker Kinder“, erinnert sich Nines.

Seit 2005 hat die Zahl der Kinder mit schwerer, akuter Mangelernährung, die im Land behandelt werden, dank medizinischer Innovationen und der neuen Gesundheitsvorschriften in Niger nicht aufgehört zu wachsen – im Jahr 2014 waren es mehr als 360.000 Kinder. Das ist nicht darauf zurückzuführen, dass es mehr mangelernährte Kinder gibt, sondern dass sich die Versorgung im Land verbessert hat. Außerdem wurden neue Maßstäbe für die Definition von Mangelernährung eingeführt, die automatisch zu einem Anstieg der Fälle führten, die als mangelernährt gelten. Währendessen gab es auch eine deutliche Verbesserung bei der Versorgung von Kinderkrankheiten wie Malaria, die mangelernährte Kinder besonders aggressiv befällt.

Voriges Jahr kehrte Nines nach Niger zurück: „Ein großer Fortschritt in den vergangenen Jahren war die Einführung der saisonalen Malaria-Chemoprävention. Mit dieser Maßnahme erhalten alle Kinder im Alter zwischen drei Monaten und fünf Jahren in der Zeit mit den meisten Krankheitsfällen eine vorbeugende Behandlung”, erklärt der Experte. „Außerdem haben wir uns dafür eingesetzt, dass einfache Malaria direkt in den Gemeinden diagnostiziert und behandelt werden kann – und zwar von Personal, das nur eine kurze Einschulung benötigt. So konnte der Zugang zur medizinischen Versorgung verbessert und die Entwicklung schwerer Malaria verhindert werden.“

Fachkräftemangel im Land schwächt Gesundheitssystem

Die Gesundheitsbehörden in Niger arbeiten ebenfalls in diese Richtung und bilden Fachkräfte aus, um die Haupttodesursachen im Land zu bekämpfen: Malaria, Lungenentzündungen, Durchfall und Mangelernährung. Diese Strategie versucht, eines der größten Probelem in nigrischen Gesundheitssystem zu entschärfen – den Mangel an ÄrztInnen und Pflegefachkräften, vor allem in ländlichen Regionen.

„Mangelernährung ist in Niger immer noch eine Realität und sollte daher aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheit betrachtet werden“, ergänzt Luis Encinas, unser Einsatzleiter im Land. „Um sie zu bekämpfen müssen wir eine Reihe an grundlegenden Gesundheitsmaßnahmen durchführen, die sich an die Jüngsten wenden – so wie wir es bereits in Tama machen, damit Kinder gesund aufwachsen können.“

Mangelernährung in Niger: Die Erkenntnisse einer Dekade

1. Schwere, akute Mangelernährung kann auf breiter Basis behandelt werden: Bis zum Jahr 2005 wurden Kinder systematisch für eine einmonatige Behandlung im Spital aufgenommen. Die Einführung der therapeutischen Fertignahrung hat die Behandlung massiv vereinfacht und ermöglicht auch die Verabreichung Zuhause. Weltweit wurden 2005 insgesamt 300.000 Einheiten dieser Fertignarhung verkauft; 2013 waren es bereits 3 Millionen.

2. Umfassende Kriterien zur Definition von Mangelernährung: Die Weltgesundheitsorganisation WHO veröffentlichte neue anthropometrische Werte für Mangelernährung, nachdem das Kindeswachstum in acht Ländern auf fünf Kontinenten untersucht worden war. In Folge dessen wurden viele Kinder, die davor nur als moderat mangelernährt (jedoch mit einem hohen Sterblichkeitsrisiko) galten, ebenfalls als schwer mangelernährt erfasst – so erhielten sie eine Behandlung und konnten leichter geheilt werden.

3. Schwere, akute Mangelernährung betrifft vor allem die Jüngsten: Unter allen Kindern im Alter von unter fünf Jahren sind jene zwischen sechs und 23 Monaten am häufigsten von schwerer, akuter Mangelernährung betroffen. In unseren Projekten sind rund 80% der Fälle in dieser Altersgruppe. Aufgrund dieser Datenlage konzentrieren sich Programme zur Senkung der Kindersterblichkeit vor allem auf die jüngsten Kinder.

4. Malaria und Mangelernährung – eine tödliche Kombination: Malaria ist in vielen Ländern, die von Mangelernährung betroffen sind, eine der Haupttodesursachen. Diese Kombination tritt in der selben Zeit des Jahres auf, deshalb müssen Strategien entwickelt werden, um beide Probleme zu bekämpfen. Beispielsweise werden Kinder, die eine saisonale Malaria-Prävention erhalten, auch auf ihren Ernährungsstatus hin untersucht – und im Bedarfsfall behandelt.

5. Alle Krankheiten, unter denen ein Kind leidet, müssen behandelt werden: Mangelernährte Kinder haben ein sehr schwaches Immunsystem. Daher kann ihr Körper nur bedingt gegen Krankheiten wie Malaria, Durchfall oder Atemwegsinfektionen kämpfen. Gleichzeitig sind Kinder mit diesen Krankheiten einem höheren Risiko von Mangelernährung ausgesetzt. Immer mehr Hilfsprogramme versuchen daher, mit einem umfassenden Ansatz alle medizinischen Bedürfnisse von Kindern abzudecken.

6. Die Behandlung muss dezentralisiert und vereinfacht werden: Die Behandlungsansätze von Kinderkrankheiten zu vereinfachen ermöglicht, dass Gesundheitskräfte nach nur einer kurzen Ausbildung diese erkennen und behandeln können – und zwar in einer Gesundheitseinrichtung, die möglichst nahe beim Kind ist. So müssen nur die schwersten Fälle in ein Krankenhaus oder Ernährungszentrum überwiesen werden.