„Wir müssen das Vertrauen der Mütter gewinnen“

Interview zur Behandlung unterernährter Kinder

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12.06.2012
Bachmann Marcus
MSF
20.07.2012: Der Österreicher Marcus Bachmann bei einem Einsatz in Bangladesch 2007.

N’Djaména/Wien: Während die Ernährungskrise im Tschad weiter zunimmt, erweitert Ärzte ohne Grenzen die Zahl der Noternährungsprogramme im Land. Die Organisation möchte damit den Raten schwerer Unterernährung entgegen wirken, die rasch ansteigen. Auch in normalen Jahren weist der Tschad eine der weltweit höchsten Raten chronischer Mangelernährung auf. Anfang 2012 lag die „globale akute Mangelernährung“ bei Kindern unter fünf Jahren in einigen Landesteilen bereits bei 24 Prozent. Ein Interview mit Marcus Bachmann, Projektkoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Biltine.

Mehrere Faktoren haben zum Anstieg der Mangelernährungsraten beigetragen. Dazu gehören sporadische Regenfälle, der rasante Anstieg der Preise für Nahrungsmittel und Treibstoff, der vorzeitige Verbrauch der Nahrungsvorräte sowie fehlender Zugang zu Gesundheitsversorgung. Hinzu kommt, dass Zehntausende Menschen aus dem Tschad, die in Libyen gearbeitet haben, vor der dortigen Gewalt geflohen und heimgekehrt sind, was zu einem Einkommensverlust geführt hat.

Ärzte ohne Grenzen hat im April in der Stadt Biltine ein intensiv-therapeutisches Ernährungszentrum eröffnet. In den abgelegenen Gebieten außerhalb Biltines wurden fünf Zentren zur ambulanten therapeutischen Ernährung von Kindern eingerichtet. Bisher wurden 282 Kinder ambulant behandelt und 42 kritisch kranke, unterernährte Kinder stationär aufgenommen. Ärzte ohne Grenzen plant vor dem Höhepunkt der Hunger-Saison im Juli sieben weitere ambulante therapeutische Ernährungszentren in Biltine zu eröffnen.

Weshalb gibt es derart alarmierende Unterernährungsraten in Biltine?

Im Februar beginnt im Tschad die jährliche Hungerperiode. Dann gehen traditionell die Nahrungsvorräte der Familien vor der nächsten Ernte zu Ende. Heuer hat Ärzte ohne Grenzen bei den Kindern unter fünf Jahren sehr hohe Raten akuter Unterernährung festgestellt. Denn nur 46 Prozent des Ernteertrags, der zur Ernährung der Bevölkerung notwendig wäre, konnte heuer eingefahren werden – das ist deutlich unter dem Durchschnitt. Zudem haben viele Tschader, die in Libyen gearbeitet haben, ihre Jobs verloren und sind nach Hause zurückgekehrt. Diese Männer sind auf der Suche nach Arbeit in andere Teile des Tschad gezogen. Die Löhne sind jedoch viel niedriger, deshalb schicken sie weniger Geld nach Hause.

Was war bisher die größte Herausforderung für Sie?

Frauen haben uns erzählt, dass sie, als am Jahresanfang die „magere Saison“ begonnen hat, bis zu 25 Kilometer zu einem Gesundheitszentrum gegangen sind. Ihre mangelernährten Kinder wurden dort aber nicht ausreichend versorgt. Viele Gesundheitszentren in diesem Bezirk sind schlecht ausgestattet, mit unzureichend ausgebildetem Personal. Wir müssen uns jetzt mächtig anstrengen, diese Mütter erneut zu erreichen und sie davon zu überzeugen, dass jetzt eine medizinische Behandlung für ihr Kind vorhanden ist. Dass ein Arzt oder eine Krankenschwester da ist, und dass sie Hilfe bekommen werden. Wir müssen das Vertrauen der Mütter in dieser Region wieder gewinnen, und das ist eine riesige Aufgabe.

Wie funktioniert ein ambulantes therapeutisches Ernährungszentrum genau?

Unser mobiles Team, das aus einem Supervisor von Ärzte ohne Grenzen und neun medizinischen Mitarbeitern besteht, fährt hinaus zu einer lokalen Gesundheitsklinik. Dort wird das nötige Equipment aufgebaut. Das Team verbringt den Tag damit, Kinder zu registrieren und sie auf Mangelernährung zu untersuchen, was mittels Messung des Gewichts und des Oberarmumfangs geschieht. Die Kinder erhalten therapeutische Fertignahrung für eine Woche, eine Decke und ein Malaria-Netz. Von den Müttern wird erwartet, dass sie wöchentlich zurückkommen, bis ihr Kind wieder gesund ist.

Sehr schwache Kinder werden in unsere Kinder-Krankenstation in Biltine überwiesen, wo wir eine Intensiv-Abteilung zur Behandlung schwerwiegender Fälle haben. Meist handelt es sich dabei um Kinder, die aufgrund der Schwächung des Immunsystems durch die Mangelernährung an zusätzlichen Krankheiten leiden, wie etwa Atemwegserkrankungen, Durchfall und sogar Tuberkulose. Manchmal sind die Kinder einfach zu schwach, um essen zu können, und sie müssen über eine Magensonde ernährt werden.

Verändert die Hilfe von Ärzte ohne Grenzen etwas für die Menschen?

Es berührt mich sehr, wenn ich die Mütter mit ihren Kindern in die Ernährungszentren kommen sehe. Sie haben eine große Distanz zurückgelegt, mit einem Kind am Rücken, unter den härtesten Voraussetzungen und bei extremen Temperaturen. Sie erzählen mir, dass sie daran gezweifelt haben, dass Ärzte ohne Grenzen wirklich Woche für Woche wiederkehren würde, um ihnen zu helfen. Sie sind so erleichtert, dass ihre Kinder endlich behandelt werden und wieder gesund werden. Wir gewinnen das Vertrauen der Mütter, und sie erzählen anderen Müttern von unserer Hilfe.

Wie geht es weiter und was fordert Ärzte ohne Grenzen?

Unser Notprogramm in Biltine läuft bis Mitte Dezember. Wir hoffen, dass eine andere Organisation, wie etwa das Welternährungsprogramm der UNO (WFP), so bald wie möglich mit der allgemeinen Verteilung von Nahrungsmitteln an die Bevölkerung von Biltine beginnt.

Auch in Am Timam in der Region Salamat im Südosten des Landes, wo Ärzte ohne Grenzen ein Langzeit-Programm hat, gibt es einen alarmierenden Anstieg der Mangelernährungsraten. Zwischen Jänner und April mussten 2.478 Kinder in ambulanten therapeutischen Ernährungszentren behandelt werden – beinahe doppelt so viele wie in derselben Periode im Vorjahr.In Yao, in der Batha-Region, hat Ärzte ohne Grenzen im April ein Ernährungsprogramm gestartet. Bisher wurden 420 Kinder behandelt.In der Stadt Massakory, in der Region Hadjer Lamis im Westen des Landes, betreibt Ärzte ohne Grenzen ein Kinderspital mit 200 Betten. Derzeit werden hier 160 Kinder behandelt, unter anderem gegen Mangelernährung.In dieser Woche hat Ärzte ohne Grenzen in Abou Deia ein Ernährungsprogramm gestartet, in dem mit 1.000 Kindern gerechnet wird.