Drei Monate nach den schweren Erdbeben kämpfen die Betroffenen mit der „neuen Normalität”

05.05.2023
Teams von Ärzte ohne Grenzen sind im Nordwesten von Syrien im Einsatz, in der Türkei unterstützt die humanitäre Nothilfeorganisation Partnerorganisationen.

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Nach den starken Erdbeben im Süden der Türkei und im Nordwesten Syriens am 6. Februar brauchen Hunderttausende Menschen weiterhin dringend Hilfe. Mehr als 56.000 Menschen sind gestorben, über 100.000 Menschen wurden verletzt und über drei Millionen Menschen wurden obdachlos. Drei Monate später besteht immer noch ein großer Hilfsbedarf, gleichzeitig stellt sich eine „neue Normalität“ ein. Teams von Ärzte ohne Grenzen sind im Nordwesten von Syrien im Einsatz, in der Türkei unterstützt die humanitäre Nothilfeorganisation Partnerorganisationen.

„Die ersten drei Monate waren eine Akutphase, für die Betroffenen und die Helfer:innen: Plötzlich war die Hauptsorge der Menschen im Erdbebengebiet, dass ihre Grundbedürfnisse gedeckt werden. Für Menschen, die bisher nie von humanitärer Hilfe abhängig waren, war das erst einmal ein Schock“, so der Österreicher Marcus Bachmann, der derzeit als Notfallkoordinator in der Türkei ist, um nach dem Erdbeben Partnerorganisationen von Ärzte ohne Grenzen vor Ort zu unterstützen. „In der nun folgenden Phase, die vermutlich länger, für manche gar Jahre, andauern wird, müssen die Menschen in einer ‚neuen Normalität‘ ankommen.“

Hilfe für besonders schutzbedürftige Menschen kommt noch nicht an

In Zusammenarbeit mit lokalen Partnern konzentriert sich Ärzte ohne Grenzen in der Türkei auf die Bedürfnisse von besonders vulnerablen Menschen, sowie die Hilfe in schwer erreichbaren Regionen und Orten, an denen besonders viele Vertriebenen, die ihre Häuser verloren haben, leben. Dazu Bachmann: „Es ist bereits viel geschehen und viele Basisbedürfnisse sind gedeckt. Was wir aber sehen ist, dass besonders vulnerable Menschen noch nicht die Hilfe erhalten, die sie benötigen: Dabei handelt es sich um schutzbedürftige oder bereits vor den Erdbeben marginalisierte Gruppen wie die syrischen Geflüchteten im Land aber auch Bewohner:innen entlegener Bergdörfer oder benachteiligte städtische Bevölkerungsgruppen.“ 

Ärzte ohne Grenzen bietet den Betroffenen in Malatya sowie Adiyaman und der jeweiligen Umgebung über die lokale Nichtregierungsorganisation „Imece Inisiyatifi“ psychosoziale Unterstützung, um ihnen Bewältigungsstrategien anzubieten. „Wir sind jetzt in einer Phase nach der Katastrophe, in der die Menschen die unmittelbaren und psychischen Folgen in ihrem Leben spüren – und erkennen, dass es eine langfristige Veränderung ist. Dies wirkt sich unmittelbar auf ihre psychische Gesundheit aus. Neben der ursprünglichen Traumatisierung entstehen neue Symptome. Die Betroffenen erkennen die Notwendigkeit, eine neue Normalität für sich und ihre Familien zu schaffen“, beschreibt Giulia Panseri, Projektleiterin von Ärzte ohne Grenzen bei „Imece“. Die Organisation verteilt auch Güter wie Decken und Hygieneartikel. „Die Hilfe - auch in Bezug auf psychologische Unterstützung, einschließlich Psychotherapie - muss jedoch auch langfristig und strukturiert gewährleistet werden.“

Menschen leben auf engstem Raum zusammen

In den letzten Monaten wurden von den Behörden und Hilfsorganisationen 600.000 Zelte und mehr als 60.000 Container errichtet, um Menschen, deren Zuhause in den Erdbeben zerstört wurde, unterzubringen. Sie leben nun teilweise zu fünft auf 12 bis 16 Quadratmetern, oftmals ohne ausreichende Infrastruktur.

Zeynep Iclal Incioğlu, Expertin für psychische Gesundheit bei der von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Organisation „Maya Vakfı“ ist in Antakya in der Provinz Hatay im Einsatz: „In den informellen Siedlungen am Stadtrand besteht immer noch ein ungedeckter Bedarf, was die Unterbringung der Menschen, ihre Ernährungssicherheit, Wasserversorgung und psychische Gesundheit, eine rechtliche Unterstützung, Sicherheit und Schulen betrifft.“ Ärzte ohne Grenzen hat letzte Woche allein in Hatay 17.000 Lebensmittelpakete an Betroffene verteilt. Der Bedarf wird sich in den kommenden Monaten mit der Ankunft von Rückkehrenden, die unmittelbar nach dem Erdbeben vorübergehend in anderen Städten untergekommen sind, noch verschärfen. Incioğlu betont, dass sich auch die sozialen Spannungen – insbesondere zwischen der Aufnahmebevölkerung und den Vertriebenen – in den informellen Siedlungen verstärken, da die Hilfsleistungen abnehmen und es keine Beschäftigungsmöglichkeiten für die Vertriebenen gibt.

Ärzte ohne Grenzen unterstützt Bau von Rückzugsorten

„Die Menschen in den Zeltlagern und Container-Siedlungen leben auf engstem Raum und haben keine Rückzugsorte“, beschreibt Marcus Bachmann. „Wir errichten daher aktuell drei sogenannte Nefes-Zentren. Dabei handelt es sich um einen “sicheren Hafen” an zentralen Standorten, die offen sind für alle Menschen, insbesondere auch für Frauen und Mädchen. Es wird nicht nur psychosoziale Hilfe geboten, sondern auch Aktivitäten für Kinder, Waschmaschinen, Duschen und Möglichkeiten zum Austausch. Auch eigene Räume für Mütter mit Neugeborenen bieten wir an, damit diese etwa in Ruhe stillen können. Nefes ist das türkische Wort für ‚durchschnaufen‘ oder ‚Luft schnappen‘ und es beschreibt gut, was diese Zentren bieten sollen: Die Möglichkeit, in der ‚neuen Normalität‘ auch einmal kurz durchzuatmen.“

Seit dem dritten Tag nach dem schweren Erdbeben am 6. Februar waren Teams lokaler NGOs mit Unterstützung von Ärzte ohne Grenzen vor Ort, um den Gesamtbedarf zu ermitteln und den Überlebenden sowie den Ersthelfer:innen wie Such- und Rettungsteams und Krankenhauspersonal in den betroffenen Gebieten psychologische Unterstützung zu leisten. In den vergangenen drei Monaten haben die von Ärzte ohne Grenzen unterstützten lokalen Organisationen psychologische Hilfe angeboten und Zelte, warme Kleidung, Kochgelegenheiten, Hygiene- und Waschsets sowie Brennholz verteilt und sie mit Wasser und Lebensmitteln versorgt.