Erdbeben in der Türkei: Psychologische Unterstützung für Überlebende

Die Erdbeben in der Türkei hatten massive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Überlebenden. Ärzte ohne Grenzen unterstützt lokale Organisationen dabei, den Menschen psychologische Hilfe zu leisten.

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12.04.2023

Die Folgen der verheerenden Erdbeben vor rund zwei Monaten in der Türkei sind in den betroffenen Gebieten noch stark sichtbar: zerstörte Gebäude, Zeltstädte und Wiederaufbauarbeiten. Bei den Überlebenden hatten die Erdbeben zusätzlich weniger sichtbare, aber massive Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit. Ärzte ohne Grenzen unterstützt lokale Organisationen in der Türkei dabei, den Menschen psychologische Hilfe zu leisten.

In den Tagen nach den schweren Erdbeben harrten die Menschen vor den Resten ihrer Häuser aus, während Such- und Rettungsteams versuchten, Überlebende und Leichen aus den Trümmern zu bergen. Die Menschen mussten Leichen identifizieren und nachsehen, ob es sich um Angehörige handelte. Nach Angaben der türkischen Behörden kamen bis Anfang April allein in der Türkei über 50. 300 Menschen ums Leben.

„Trotz der problematischen hygienischen Verhältnisse und der oft ungünstigen Wetterbedingungen haben die meisten Menschen immer noch zu viel Angst, Gebäude zu betreten. Sie fühlen sich nicht sicher. Aus Überlebensinstinkt halten sie sich nach wie vor im Freien auf", sagt Nazlı Sinem Koytak, Psychologin bei Imece Inisiyatifi in Adiyaman, einer von Ärzte ohne Grenzen unterstützten lokalen Nichtregierungsorganisation.

Ärzte ohne Grenzen unterstützt lokale Organisationen bei der psychologischen Betreuung der Menschen in den betroffenen Gebieten, u. a. in den Provinzen Adıyaman und Malatya durch Imece Inisiyatifi und in den Provinzen Hatay und Kahramanmaras durch Maya Vakfi und hat so bis zum 24. März über 7.500 Menschen in Einzel- und Gruppenberatungen versorgt.

„In einem der Dörfer sagten die Teilnehmer:innen, dass sich ihre Häuser in ‚Monster' verwandelt hätten. Früher suchten die Menschen in ihren Häusern Zuflucht, aber jetzt haben sich die Häuser in einen Ort der Angst verwandelt - einen Ort, der sie umbringt", beschreibt Koytak.

Die Psycholog:innen ermutigen die Menschen, ihre Gefühle, Erlebnisse und Probleme mitzuteilen, und machen ihnen klar, dass ihre Emotionen angesichts des Erlebten normal sind. Gruppensitzungen schaffen eine Verbindung zwischen den Teilnehmer:innen und bringen Betroffene zusammen, damit sie sich in schwierigen Momenten gegenseitig unterstützen können.

Die Überlebenden befinden sich nach wie vor in einem Alarmzustand und haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und einzuschlafen. Einige haben jede Nacht Albträume, sind vergesslich und haben ihren Appetit verloren. Nachbeben treten immer noch täglich auf, dadurch erleben die Menschen die vergangenen Ereignisse im Geiste immer wieder von neuem. Sie fürchten weitere Katastrophen.

Posttraumatische Stresssymptome

„Ich kann in diesen Tagen nicht gut schlafen. Ich kann auch nicht lernen. Es fühlt sich an, als ob alle Informationen, die ich im Kopf hatte, jetzt weg sind. Was immer ich früher wusste, weiß ich jetzt nicht mehr." sagt der 13-jährige Eylül, der im Dorf Kayatepe (Rezip) in Adiyaman lebt.

Nach Angaben des türkischen Katastrophen- und Notfallmanagements (AFAD) gab es seit den Erdbeben vom 6. Februar über 25.000 Nachbeben, 47 davon mit einer Stärke von mehr als 5 auf der Richterskala. Die Psycholog:innen der von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Organisationen haben festgestellt, dass die posttraumatischen Stresssymptome nicht abnehmen.

In ländlichen Gebieten wie den Dörfern Başpınar (Küllüm) und Kayatepe (Rezip) in Adıyaman, wo Imece Inisiyatifi (Imece-Initiative) Hilfe leistet, haben fast alle Familien mindestens eine:n Angehörige:n verloren. Sie versuchen, ihre Lebensgrundlage wieder aufzubauen und mussten oft zusätzlich noch andere Verwandte bei sich aufnehmen. Viele Menschen empfinden die städtischen Gebiete oft als zu gefährlich und ziehen deshalb aufs Land.

Der Bedarf an Nahrungsmitteln, Wasser und sanitären Einrichtungen sowie an Zelten und anderen Hilfsgütern ist enorm. Yardım Konvoyu (Aid Convoy Association) konzentriert sich mit Unterstützung von Ärzte ohne Grenzen auf die Verteilung von Hilfsgütern an Menschen in informellen Lagern, die in Parks und auf Parkplätzen eingerichtet wurden. Koytak betont: „Der Verlust des Lebensunterhalts ist ein weiteres Problem, mit dem die Menschen fertig werden müssen.“

„Die Menschen können weder zu ihrer Arbeit noch zu ihren Haushaltsroutinen zurückkehren. Adıyaman zum Beispiel ist eine zerstörte Stadt. Mit der Zeit wird diese Situation die Emotionen und das Verhalten von immer mehr Menschen beeinflussen, was eine Erholung auf lange Sicht sehr viel schwieriger macht.“

Die lokalen Organisationen, die Ärzte ohne Grenzen unterstützt, leisten psychologische Hilfe für alle Menschen, die in der Region vom Erdbeben betroffen sind - auch für das  lokale Gesundheitspersonal und für freiwillige Helfer:innen.  Die psychologische Unterstützung kann viele verschiedene Formen annehmen, insbesondere bei Kindern, die oft von einfachen Tätigkeiten wie Malen, Tanzen oder Musik hören profitieren.

Psychologische Hilfe durch Unterstützung lokaler Organisationen

Die Erdbeben waren verheerend, und ihre Folgen werden das Leben der Menschen noch jahrelang beeinträchtigen. Durch die Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen bei der psychologischen Betreuung will Ärzte ohne Grenzen den Menschen dabei helfen, die nötige Kraft und Widerstandsfähigkeit für den Wiederaufbau und die Verarbeitung des immensen erlebten Traumas zu entwickeln.

Ärzte ohne Grenzen unterstützt in der Türkei folgende lokale Organisationen:

Imece Inisiyatifi ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Izmir, die sich auf das traditionelle türkische Prinzip des "imece" stützt, das kollektives Handeln und gegenseitige Unterstützung betont. Die Organisation konzentriert sich auf die Entwicklung der Gemeinschaft durch gemeinschaftsbasierte Ansätze und führt seit den Erdbeben die Verteilung von Hilfsgütern sowie Bildungs- und psychologische Unterstützung für vulnerable Bevölkerungsgruppen durch.

Maya Vakfi ist eine türkische gemeinnützige Organisation, die sich auf die geistige, körperliche und akademische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Alter von 5 bis 24 Jahren sowie deren Betreuer:innen konzentriert. Im Rahmen ihrer Hilfe nach den Erdbeben und ihrer Erfahrung in der Katastrophenhilfe bietet die Organisation derzeit psychologische Unterstützung für Betroffene an und führt Veranstaltungen durch, um die Resilienz und den Heilungsprozess der von den Erdbeben betroffenen Menschen zu verbessern. Maya Vakfi bietet auch Fortbildungsmaßnahmen und Aktivitäten zur Förderung des Wohlbefindens von Mitarbeiter:innen des öffentlichen Dienstes an.

Yardım Konvoyu ist eine Nothilfeorganisation mit Sitz in Istanbul, die in Katastrophen- und Krisengebieten Nothilfe leistet und sich dabei auf die Bereiche Gesundheit, Wasser- und Sanitärversorgung sowie Ernährungssicherheit konzentriert. Seit den Erdbeben leistet die Organisation in Kahramanmaraş, Adıyaman, Hatay und Gaziantep Hilfe.