Auf der Flucht: "Die Menschen brauchen Wärme!"

Kommentar von
11.11.2015
Rückblick von Krankenschwester Sandra Miller aus Salzburg über ihren Einsatz an der slowenisch-kroatischen Grenze.

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Ein medizinisches Team von Ärzte ohne Grenzen unterstützte im Oktober die Ambulanz des Gesundheitsministeriums im slowenischen Aufnahmezentrum Brezice. Krankenschwester Sandra Miller aus Salzburg war vor Ort und berichtet in einer "Email aus dem Einsatz" rückblickend von ihren Eindrücken. Mittlerweile hat sich die Situation vor Ort verbessert und das Einsatzteam ist zurück in Österreich, wo unsere MitarbeiterInnen in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen medizinische Unterstützung für Flüchtlinge leisten. Doch die hier beschriebenen Zustände treffen immer noch auf tausende Menschen zu, die über die Balkan-Route versuchen, West- und Nordeuropa zu erreichen.

Hanna Spegel/MSF
Brezice, Slowenien, 25.10.2015: Diese Familie floh aus Afghanistan, die Zwillinge Mustafa und Esmael sind acht Monate alt. Sie litten unter einem starken Windelausschlag sowie einer leichten Bronchitis und wurden in der Ambulanz in Brezice versorgt.

"Ich bin seit einigen Tagen hier in Brezice (21. Oktober, Anm.) und kümmere mich um die Menschen, die zu uns hier in die Ambulanz kommen. Besonders auffällig sind am Morgen die vielen PatientInnen mit Erschöpfungszuständen und Unterkühlung, denn viele müssen die Nacht unter freiem Himmel in der Kälte am Boden schlafend verbringen. Dazu kommen Atemwegserkrankungen, Grippesymptome und Magen-Darm-Erkrankungen, was auch auf die schlechten Bedingungen und die anstrengende Reise zurückzuführen ist.

Verzweifelte Eltern, weinende Mütter

Auch verzweifelte Eltern kommen zu uns, weinende Mütter mir ihren Kleinkindern, die manchmal tagelang nichts gegessen haben. Bei uns hier bekommen sie dann etwas Ruhe und Wärme - dann klappt auch das Stillen wieder und die Kinder können trinken. Wenn man den Frauen etwas Zuspruch gibt, werden sie auch wieder zuversichtlich. Erstaunlich ist, wie stark sie alle sind, auch die Kinder: Kürzlich war eine Frau bei uns, die stark hyperventilierte. Ihr Kind ist jedoch ruhig geblieben, hat ihr den Asthmaspray gegeben und versucht, sie zu beruhigen. Das gleiche gilt für Schwangere, wir hatten hier Frauen vom ersten bis zum achten Schwangerschaftsmonat. Sie sind schlichtweg fertig und weinen, wenn sie zu uns kommen. Viele machen sich Sorgen um ihr Baby, haben Angst vor einer Fehlgeburt, leiden unter Bauchschmerzen oder sogar Blutungen, die werden dann ins Spital gebracht. Babies, die noch Flaschennahrung brauchen, bekommen die Milch nur mit kaltem Wasser. Das ist dann doch klar, dass sie nichts mehr essen wollen und Bauchweh bekommen - wer will schon ein kaltes Fläschchen!

Angst, von der Familie getrennt zu werden

Es kommen auch chronisch Kranke, die unter Diabetes oder Herzerkrankungen leiden, oder Kinder mit Epilepsie. Sie fragen dann nach ihren Tabletten, doch wir können ihnen oft nicht helfen, weil wir dafür hier im Zentrum nicht ausgerüstet sind. Auch Dialyse-PatientInnen haben wir, die werden dann in ein Krankenhaus überstellt, wenn sie wollen - oft sind sie jedoch dagegen, weil sie nicht von ihrer Familie getrennt werden wollen. Uns fragen überhaupt immer wieder Leute, ob wir wissen, wo ihre Verwandten sind - erst heute war wieder ein kleiner Bub da, das zehrt dann schon. Aber es ist auch schön, wenn man immer wieder draußen Menschen trifft, die sich gefunden haben.

Hanna Spegel/MSF
Brezice, Slowenien, 25.10.2015: Einer der beiden Zwillinge lässt sich nach der Behandlung durch Seifenblasen aufmuntern.

Hauptproblem ist die Sprachbarriere und die die fehlenden ÜbersetzerInnen – wir spielen hier die ganze Zeit „Activity“. Es mangelt an Informationen und die Menschen wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen.

Mangelnde Hygiene beeinträchtigt die Gesundheit

Die PatientInnen fragen auch oft, ob sie sich hier duschen und waschen können. Wir geben ihnen dann Feuchttücher, aber es gibt einfach zu wenige Duschen und Sanitäranlagen. Das Gefühl, sich nicht um die eigene Körperhygiene kümmern zu können, ist erniedrigend, und hat somit nicht nur körperliche, sondern auch psychische Auswirkungen. Die Menschen sind alle sehr am Limit, manche schon darüber hinaus. Die Situation ist einfach untragbar.

Die Bedürfnisse sind also oft nicht unbedingt vordergründig medizinisch. Das Wichtigste ist hier in dieser Situation hauptsächlich, Zuspruch und Wärme zu geben."

Ärzte ohne Grenzen leistet momentan entlang der Balkan-Route Hilfe für MigrantInnen, AsylbewerberInnen und Flüchtlinge. Mehr dazu auf:

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