Libyen: Für die psychische Gesundheit der Menschen in den Internierungslagern braucht es mehr als Medikamente

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13.05.2019
Sandra Miller, ehemalige Pflegeleiterin von Ärzte ohne Grenzen in Tripolis, berichtet über ihre Erlebnisse und Erfahrungen während eines Arbeitstags im Internierungslagern Anjila in Libyen und erklärt, warum die inhaftierten Menschen mehr als nur Medikamente brauchen.

Sandra Miller, ehemalige Pflegeleiterin von Ärzte ohne Grenzen in Tripolis, berichtet über ihre Erlebnisse und Erfahrungen während eines Arbeitstags im Internierungslagern Anjila in Libyen und erklärt, warum die inhaftierten Menschen mehr als nur Medikamente brauchen.

Dschansur, außerhalb von Tripolis. Eine Frau hängt auf ihrer Terrasse im fünften Stock die nassen, bunten Kleider in die morgendliche Brise. Der Himmel ist düster. Der Stacheldraht auf der anderen Straßenseite blockiert die Sicht. Hinter diesen Mauern sind mehr als hundert Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge eingesperrt. An den schmutzigen Mauern hängen T-Shirts und Schuhe.

Inhaftierte Menschen in einem Internierungslager in Libyen
Sara Creta/MSF
Libyen, 05.09.2018: Viele der inhaftierten Männer im Internierungslager sind traumatisiert.

Das Team von Ärzte ohne Grenzen, mit dem ich in den letzten sechs Monaten zusammengearbeitet habe, betritt das schwer bewachte Internierungslager mit Medikamenten, Lebensmitteln und einer Schachtel voller Notizhefte. Ziel des Besuches ist es, sowohl auf die physischen wie auch die psychischen Gesundheitsbedürfnisse der Internierten einzugehen. Die Menschen hier im Lager leiden an einer Reihe von Krankheiten, die von den prekären und unmenschlichen Lebensbedingungen zusätzlich verschlimmert werden. Außerdem nehmen Angstzustände und Angstattacken, Schlafstörungen und Depressionen unter den Internierten immer mehr zu.

Mehr als 3000 Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge in akuter Gefahr

In den letzten Monaten verschlimmerten sich die physischen und mentalen Gesundheitsprobleme der Internierten aufgrund der gewaltsamen Zusammenstöße in Tripolis noch zusätzlich. Es handelt sich um den dritten Gewaltausbruch in sieben Monaten. Die Kämpfe gefährden die Zivilbevölkerung in Tripolis und Umgebung und mehr als 3000 Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge sind in akuter Gefahr, getötet oder verletzt zu werden, da die Internierungslager willkürlichem Beschuss, Bombardierungen und Luftangriffen ausgesetzt sind.

Als wir das Gefangenenlager Anjila betreten und uns auf die Arbeit vorbereiten, wird eine Gruppe von ca. 80 Männern aus einer übervollen Zelle geholt und von den Wärtern angewiesen, sich in Zehnerreihen niederzusetzen. Viele sehen nur noch halb lebendig aus. Mit leerem Blick und emotionslosen Gesichtern schauen sie zur jungen Frau in der weißen Weste mit dem rotem Logo, die vor ihnen steht. Balkees Mgadami, eine 24-jährige libysche Dolmetscherin, spricht mit ruhiger, aber bestimmter Stimme: „Guten Morgen. Wir sind von Ärzte ohne Grenzen.“

Sie wechselt fließend zwischen Arabisch, Französisch und Englisch und erklärt, dass das medizinische Personal jede Woche in das Internierungslager kommt, um medizinische Hilfe zu leisten. Am Ende ihrer einführenden Erklärungen fügt sie etwas Wichtiges an: „Heute verteilen wir Notizhefte und Stifte. Ihr könnt darin etwas zeichnen oder wenn ihr Ideen habt, könnt ihr sie aufschreiben. Das kann helfen.“

Das ist zwar nur eine kleine Geste, kann aber für die Menschen, die so viel durchgemacht haben und nun im Internierungslager eingesperrt sind, einen großen Unterschied machen. Viele der Internierten sind traumatisiert, da sie von Menschenhändlern festgehalten und gefoltert wurden. Andere haben beim Versuch, über das Mittelmeer zu kommen, ihre Liebsten ertrinken sehen, und sind dann aufgefangen und nach Libyen zurückgeschafft worden.

Häftling im Internierungslager in Libyen
Sara Creta/MSF
Libyen, 05.09.2019: Die in den Internierungslagern in Libyen eingesperrten Menschen leben in prekären und unmenschlichen Lebensbedingungen.

Die Menschen sind in ihren Gedanken gefangen

„Die Menschen hier sind in ihren Gedanken gefangen, weil sie an einem Ort festgehalten werden, wo sie fast nichts machen können", erklärt Hisham Sofrani, Sozialarbeiter von Ärzte ohne Grenzen. „Für die psychische Gesundheit ist das höchst problematisch: Die Menschen werden erneut in einer Situation festgehalten, die sehr schwierig ist, und sie haben keine Zukunftsperspektive. So werden sie in Flashbacks immer wieder auf ihre Vergangenheit zurückgeworfen, insbesondere auf negative Erfahrungen.“

Mentale Stimulation durch Schreiben und Zeichnen sowie Spiele wie Drei gewinnt können ein therapeutisches Mittel sein, um Menschen zu helfen, sich auszudrücken und mit den gefährlichen Situationen, denen sie tagtäglich ausgesetzt sind, umzugehen. Auch kann es helfen, den sozialen Zusammenhalt unter den Internierten, die aus unterschiedlichen Kontexten kommen und unterschiedlichste Erfahrungen gemacht haben, zu stärken. In Gefangenschaft kann ein Stift manchmal mehr bewirken als Pillen.  

Das Wichtigste ist, zu überleben

„Wir sagen nicht, dass wir garantieren können, dass wir all ihre Probleme lösen können, aber wir versuchen die negativen Folgen einer Inhaftierung zu minimieren. Wir versuchen, den Menschen mithilfe von Bewältigungsmechanismen und Aktivitäten beim Überleben zu helfen", sagt Sofrani. „Das Wichtigste ist, zu überleben."

Während Ärztinnen und Ärzte die Patientinnen und Patienten auf Krankheiten wie Atemwegsinfektionen, akuten wässrigen Durchfall, Krätze und Tuberkulose untersuchen, versammelt sich eine kleine Gruppe auf Fußmatten auf der anderen Seite des Zentrums, wo ein Betreuer mit ihnen über Stress spricht. Gemeinsam diskutieren sie, was Stress verursacht, welche Folgeerscheinungen wie zum Beispiel Schlafstörungen dieser hervorrufen kann und wie sie und ihre Freunde damit umgehen können. Im Stehen atmet die Gruppe tief ein und aus und führt einfache Entspannungsübungen durch. Die Gruppe folgt dem Betreuer aufmerksam und bei einigen zeichnet sich sogar ein Lächeln auf dem Gesicht ab. Die Gruppe wirkt zunehmend lebendiger.

Als sich der Arbeitstag in der Haftanstalt Anjila langsam seinem Ende zuneigt, sehe ich unbehaglich zu, wie Häftlinge zurück in ihre Zelle gebracht werden. Am Ende brauchen die Menschen nicht bloß Ärztinnen und Ärzte, sondern jemanden, der ihnen zuhört. Sie müssen wissen, dass sich jemand irgendwo um sie kümmert und sie mit der Würde behandelt, die sie verdienen.

Sara Creta/MSF
Libyen, 05.09.2018: Momentan werden in Libyen schätzungsweise 6.000 Menschen in Internierungslagern festgehalten.

In ganz Libyen werden derzeit schätzungsweise 6.000 Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten in offiziellen, staatlichen Haftanstalten des libyschen Innenministeriums festgehalten. Viele flohen aus fernen Ländern auf der Suche nach einer sichereren Zukunft. Auf ihrer Flucht nach Libyen mussten sie feststellen, dass sie neue Gefahren wie Erpressung, Folter, sexuelle Gewalt, Ausbeutung und Zwangsarbeit ausgeliefert sind. Obwohl diese verletzlichen Menschen keine Straftaten begangen haben, werden sie auf unbestimmte Zeit unter Bedingungen festgehalten, die weit unter internationalen Standards liegen und sowohl ihrer körperlichen als auch ihrer psychischen Gesundheit schaden.

Seit dem Ausbruch der Kämpfe am 4. April 2019 hat Ärzte ohne Grenze die internationale Gemeinschaft aufgefordert, Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten, die in der Nähe der Konfliktgebiete gefangen sind, aus Libyen zu evakuieren. Dies ist die einzige Möglichkeit, sie an einen sicheren Ort zu bringen. Bisher wurden lediglich 455 Personen aus dem Land gebracht. Gleichzeitig wurden zwischen 300 und 400 Personen auf dem Mittelmeer abgefangen und unter Verletzung des Völkerrechts gewaltsam nach Libyen zurückgeführt. Dort werden sie weiterhin unter gefährlichen Haftbedingungen festgehalten.

 

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