Der Kampf gegen vernachlässigte Krankheiten

03.02.2012
Was zur Bekämpfung von Tropenkrankheiten tatsächlich nötig ist

Themengebiet:

Indien 2011
Anna Surinyach/MSF
Vaishali, Indien, 10.11.2011: Seit 2007 betreibt Ärzte ohne Grenzen im Distrikt Vaishali ein Kala Azar-Diagnose- und Behandlungszentrum.

Dr. Unni Karunakara, internationaler Präsident von Ärzte ohne Grenzen über Diagnostik, neue Medikamente und Forschung im Bereich der "Vernachlässigten Krankheiten" zu denen Chagas, Kala Azar oder auch die Schlafkrankheit zählen.

Eine Lumbalpunktion ist unter den Bedingungen des Feldes eine nervenaufreibende Angelegenheit. Mit einer Nadel in die Wirbelsäule eines Patienten zu stechen, um Rückenmarksflüssigkeit zu entnehmen, ist schmerzhaft und riskant - und das ist nur die Perspektive des Arztes.

Trotzdem müssen unsere Ärzte dieses Verfahren jeden Tag als Teil eines Routinetests für Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Schlafkrankheit durchführen. Versuchen Sie einmal, sich in die Lage des Patienten oder der Patientin zu versetzen. Als Verantwortlicher für ein Programm zur Behandlung der Schlafkrankheit von Ärzte ohne Grenzen in der Demokratischen Republik Kongo habe ich erlebt, wie für manche Erkrankten allein die Aussicht auf eine derartige Untersuchung zu viel war. Sie ergriffen lieber die Flucht, als sich der Prozedur zu unterziehen.

Früherkennung, Behandlung, Medikamente

Daher begrüßt Ärzte ohne Grenzen, dass am 30. Jänner in London, bei einer von der Gates Foundation einberufenen Konferenz von Pharmaunternehmen und Regierungen, die Zusage gemacht wurde, die Schlafkrankheit bis zum Jahr 2020 endgültig besiegen zu wollen. Neun weitere so genannte vernachlässigte Krankheiten sollen verstärkt bekämpft oder eliminiert werden.

Ärzte ohne Grenzen behandelt in Hilfsprogrammen die Schlafkrankheit sowie weitere lebensbedrohliche Krankheiten wie Chagas und Kala Azar. Und obwohl wir uns über die Aufmerksamkeit freuen, die diesen Krankheiten mit der Londoner Konferenz geschenkt wurde, sind wir besorgt über die viel zu einfachen Vorstellungen darüber, wie wir diese Epidemien besiegen können.

Finanzierung

Vermehrte Arzneimittelspenden durch die Pharmaindustrie müssen Teil der Lösung sein. Aber um komplexen Krankheiten wie Chagas, Kala Azar oder der Schlafkrankheit wirksam zu begegnen, reicht die Verteilung von Medikamenten allein nicht aus. Was es braucht, sind große Investitionen in nationale Früherkennungs- und Behandlungsprogramme, sowie in die Entwicklung von Diagnostik und Medikamente.

Einer Umfrage zufolge hat Pharmaindustrie im Jahr 2011 insgesamt 20,2 Millionen US-Dollar in Forschung und Entwicklung zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten investiert. Dies hört sich zunächst nach viel Geld an. Aber für die Entwicklung eines einzigen Medikaments braucht es - den Pharmafirmen zufolge - 1,3 Milliarden US-Dollar.

Neue und bessere Medikamente nötig

Zurück zur Behandlung der Schlafkrankheit: Heute wird bei der Behandlung weitgehend auf das schreckliche Präparat Melarsoprol verzichtet – ein Arsenderivat, das dem Patienten injiziert wird. Es ist derart ätzend, dass es die Kunststoffspritzen schädigt. Die verbesserten Medikamente, die wir gegenwärtig verwenden, können nur durch mehrere Infusionen verabreicht werden. Diese würden speziell ausgebildetes Personal und ein Krankenhaus erfordern – beides unerreichbarer Luxus an den Orten der Welt, an denen die Schlafkrankheit auftritt.

Um bei der Behandlung dieser Krankheiten einen Fortschritt zu erzielen, bräuchte es Medikamente, die oral eingenommen werden und an einfachen Gesundheitsposten ausgegeben werden können. Erfreulich ist, dass bei einer innovativen Produktentwicklungs-Partnerschaft – der „Drugs for Neglected Diseases Initiative (DNDi)“ – derzeit zwei aussichtsreiche Medikamente in Entwicklung sind. Die Initiative wird unter anderem von der britischen Regierung unterstützt.

Mobile Teams testen und behandeln

Neue Diagnostika und Medikamente werden in Zukunft helfen. Bis es soweit ist, funktioniert die Behandlung der Schlafkrankheit mit mobilen medizinischen Teams, die in betroffene Regionen reisen, um Test- und Behandlungsprogramme durchzuführen. Denn die meisten Betroffenen leben in entlegenen Regionen in instabilen Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo, der Zentralafrikanischen Republik und im Südsudan. 

Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen und geringer Finanzmittel haben diese mobilen Teams Großes geleistet: Im Jahr 2010 wurden weniger als 7200 Fälle der Schlafkrankheit gemeldet – und die Zahlen sinken weiter. Aber heute sind die Behandlungsprogramme in Gefahr: Belgien, Hauptgeber für das Behandlungsprogramm der Schlafkrankheit in der Demokratischen Republik Kongo, hat bekannt gegeben, seine Unterstützung 2013 zurückzuziehen.

Auch die Programme zur Früherkennung bleiben dramatisch unterfinanziert,   wahrscheinlich ist die Anzahl der Betroffenen dreimal höher als erfasst. Ohne adäquate Früherkennungs- und Behandlungsprogramme, so zeigen Erfahrungen aus der Vergangenheit, könnte die Zahl der Fälle wieder drastisch steigen.

Wichtige Maßnahmen

Soll die Ausrottung dieser Krankheit tatsächlich gelingen, braucht es ausreichend finanzierte Behandlungsprogramme, die auch Früherkennung und Überwachung miteinschließen. Eine anhaltende Unterstützung für innovative Partnerschaften wie DNDi ist notwendig, um neue und verbesserte Medikamente und Diagnostika bereit zu stellen. Zudem benötigen wir bessere Strategien, um bezahlbare Medikamente für Patienten in armen Ländern zu entwickeln. Die nationalen Behörden müssen dabei eine Führungsrolle übernehmen und ihre Anstrengungen hinsichtlich der Entwicklung und Aufrechterhaltung dieser Programme intensivieren.

Solange wir diese Herausforderungen nicht angehen, die weitreichender sind als die Konferenz in London vermuten lässt, werden wir noch eine Weile auf die Ausrottung von Krankheiten warten müssen. Bis es soweit ist, werden Kala Azar, Chagas oder die Schlafkrankheit weiterhin tausende Menschen quälen.

Anlässlich der im Januar 2012 in London abgehaltenen Konferenz „Uniting To Combat Tropical Diseases“ (Vereint im Kampf gegen Tropenkrankheiten) erschien der Gastbeitrag auch in orf.science.

Kurzinformationen:

Schlafkrankheit Die Schlafkrankheit (Trypanosomiasis) wird durch die Tse-Tse-Fliege übertragen und führt ohne Behandlung zum Tod. Im Endstadium schädigen die Parasiten (Trypanosomen) das zentrale Nervensystem, was zu schweren Schlafstörungen, zur Umkehr des Schlaf-Wach-Rhythmus sowie zu Verhaltensänderungen und geistiger Verwirrung führt.

Kala Azar Gefährlichste Form der Infektionskrankheit Leishmaniose, die durch Mücken (Phlebotomen) übertragen wird. Kala-Azar greift das Immunsystem an und kann tödlich verlaufen. Betroffen sind jährlich etwa 500.000 Menschen, vor allem in Bangladesch, Brasilien, Indien, Nepal und im Sudan; in letzter Zeit verstärkt auch in einigen Mittelmeerländern. 

Chagas Krankheit die durch einen Parasiten verursacht wird, den die blutsaugende Raubwanze überträgt. Erkrankte können Jahre ohne Symptome bleiben. Unbehandelt kann die Krankheit zu lebensbedrohlichen Problemen wie Herz- und Darmkomplikationen führen. Chagas tritt in den meisten Ländern Lateinamerikas endemisch auf. In der Region Arauca in Kolumbien kommt Chagas besonders häufig vor.