Eindrücke aus Port-au-Prince (Teil 4)

Isabelle Jeanson von Ärzte ohne Grenzen beschreibt, wie sie die Situation in Haiti erlebt

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23.01.2010

Samstag, 23. Jänner, Port-au-Prince

Die Dinge verändern sich langsam. Jeden Tag, wenn ich in unser Büro und unsere Krankenhäuser komme, gibt es kleine Neuheiten. Endlich stapelt sich Material in den Lagerräumen, es kommt ein bisschen Ordnung in den Wahnsinn. Das Programm von Ärzte ohne Grenzen entwickelt sich auch. Ich habe mit einem Experten für psychisches Trauma gesprochen und er hat mir erklärt, dass es bei der Beratung in dieser Phase in erster Linie um Informationsaustausch geht: Die Menschen darüber zu informieren, wo sie medizinische Versorgung bekommen, ihnen zu erklären, wie es zu Erdbeben kommt, usw. Erst wenn die Menschen innerlich bereit sind, beginnen sie über das zu sprechen, was sie mitgemacht haben. Die meisten erfassen noch gar nicht richtig, was sie erlebt haben. Es wird erst in Tagen oder Wochen so weit sein, dass sie begreifen, was es bedeutet ihre Angehörigen, ihr Haus, ihre Besitztümer, ihren Job oder alle Bezugspunkte zu ihrem alten Leben verloren zu haben. 

Auch aus medizinischer Sicht beginnt jetzt eine neue Phase. Verletzte, die nicht behandelt wurden, können jetzt leicht an Blutvergiftung sterben. Jene, die versorgt wurden, müssen jetzt neue Verbände bekommen. Die Teams tun alles, um so viele Menschen wie möglich zu behandeln und zu retten, was zu retten ist. Die Entscheidung einen Arm oder ein Bein zu amputieren, ist nie leicht. Unsere Ärzte und Ärztinnen versuchen immer zuerst, die verletzten Gliedmaßen retten. Aber Wundbrand gefährdet das Leben der Patienten, da sich die Infektion auf den Rest des Körpers ausdehnt. Eine Amputation kann ein enormer Schock für den Patienten oder die Patientin sein. Die Entscheidung wird getroffen, um ihr Leben zu retten. Eine Ärztin erzählte mir gestern, dass sie bei einem Buben den Fuß amputieren musste. Trotzdem bedankte er sich nachher bei ihr dafür, dass sie ihm geholfen hatte.

Glücklicherweise starten nun immer mehr Organisationen ihre Aktivitäten, vor allem im Südwesten Haitis rund um das Epizentrum. Manchmal gibt es Verwirrung um die Verteilung der Hilfe, etwa wenn zwei oder drei Krankenhäuser im selben kleinen Ort errichtet werden. Aber letztlich ist das einzige, was zählt, dass die Menschen die sofortige Hilfe bekommen, die sie so dringend brauchen.

Heute habe ich eine unglaubliche Einrichtung besucht:  Das aufblasbare Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen. Es steht dem Fußballfeld hinter einer Schule im Zentrum von Port-au-Prince. Es ist eine ideale Konstruktion für eine Situation, in der die Menschen Angst davor haben, in Gebäuden zu arbeiten. Es umfasst zwei Operationssäle, eine Apotheke, eine Patienten-Station, eine Ambulanz und viele weitere Bereiche. Es ist völlig neu, es riecht genau so wie ein nagelneues Schlauchboot. In diesem 100-Betten Krankenhaus werden wir mehr Patienten schneller behandeln können, ohne Angst, dass die Wände oder das Dach auf unsere Patienten stürzen könnten. Unsere haitianischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kommen auch wieder zur Arbeit. Auch sie werden sich in dieser Struktur sicherer fühlen, nach dem schrecklichen Erlebnis, als das Trinité Krankenhaus, in dem Ärzte ohne Grenzen arbeitete, über ihnen zusammenbrach.

Ich habe unser kleines Wunderkind mit dem amputierten Arm wieder gesehen, das ich vor ein paar Tagen in unserem Krankenhaus getroffen hatte. Weil wir ihren richtigen Namen nicht wissen, hat ein Arzt sie Gabrielle genannt, nach seiner eigenen Tochter. Es hat sich herausgestellt, dass ihre Eltern bei dem Erdbeben getötet wurden und bisher haben keine Angehörigen nach ihr gefragt. Sie hat nicht nur ihren Arm verloren, sie hat auch schwere Schädelverletzungen erlitten und musste operiert werden. Ich bin sehr bestürzt seit ich heute Abend von ihrem Arzt gehört habe, dass sie fiebert. Das ist kein gutes Zeichen für ein kleines Baby mit so schweren Verletzungen. Ich wünsche so sehr, dass sie überlebt, sie hat schon so viel geschafft. In ein paar Monaten, wenn sie die kritischsten Phasen hinter sich hat, wird das Team sich nach einer Organisation umschauen, die sich ihrer annimmt.

Die Nachbeben gehen weiter. Nach dem großen Schrecken am Dienstag Morgen gab es noch drei weitere kleinere. Um sicher zu gehen, dass ich mir nichts einbilde, habe ich immer eine halb volle Wasserflasche neben mir auf dem Tisch. Wenn sich das Wasser bewegt, weiß ich, dass es ein Beben ist und nicht meine Fantasie.

Heute Nacht gab es im Zentrum der Stadt ein großes Feuer. Man hört, dass Menschen plündern und Häuser niederbrennen. Die Mensche fragen nach Arbeit, sie sind hungrig. Das Welternährungsprogramm hat in der Nähe unseres Krankenhauses Essen verteilt. Es müssen Hunderte Menschen gewesen sein, die drängten und dem Lastwagen nachliefen, als der versuchte, davon zu fahren. Ein den Straßen sieht man selbstgebastelte Schilder oder Leintücher, auf denen Botschaften geschrieben sind wie „SOS“ und „Wir brauchen Essen und Wasser“. Alle schlafen noch immer im Freien und waschen sich auf der Straße, in Parks, wo immer sie einen Flecken fühlen, wo sie sich sicher fühlen. Das Trauma des Bebens sitzt tief. Die Menschen sprechen nicht unbedingt drüber, aber ihr Verhalten spricht mehr als Worte.