EU-Indien-Gipfel: Ärzte ohne Grenzen fordert Europa auf, den Zugang zu leistbaren Medikamenten nicht zu blockieren

10.12.2010
Deutschland, Großbritannien und Frankreich wollen Indiens Gesetz untergraben
Malawi 2006
Julie Remy
Malawi, 04.05.2006: Archivbild: Versorgung mit lebenswichtigen HIV/Aids Medikamenten im Distrikt Thyolo.

Brüssel/Wien, 10. Dezember 2010. Angesichts des EU-Indien-Gipfeltreffens heute in Brüssel fordert Ärzte ohne Grenzen/Médecins sans Frontières (MSF) – gemeinsam mit Aids-Aktionsgruppen in Afrika, Asien und Europa – dass die EU Maßnahmen unterlässt, die Indiens Rolle als Produzent leistbarer lebensrettender Generika unterwandern. Über 80 Prozent der Aids-Medikamente, die in Entwicklungsländern zur Behandlung von über fünf Millionen Menschen eingesetzt werden, stammen von Herstellern in Indien.

„Vor einem Jahrzehnt haben sich die Menschen nicht mal überlegt, sich testen zu lassen, da sie wussten, dass die vorhandenen Aids-Medikamente sowieso zu teuer waren“ erklärt Dr. Peter Saranchuk, HIV-Experte von Ärzte ohne Grenzen in Südafrika. „Ich weigere mich, auf den Stand von vor 10 Jahren zurückzufallen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Europa die Versorgung mit leistbaren Medikamenten stoppt, auf die wir und andere uns verlassen, um Patienten auf der ganzen Welt zu behandeln.“

 

Wettbewerb um Generika

 

Das indische Patentschutzgesetz aus dem Jahr 2005, das die internationalen Richtlinien voll respektiert, enthält strenge Regelungen im Sinne der öffentlichen Gesundheit: Patente werden nur für jene Medikamente gewährt, die eine wirkliche Innovation aufweisen. Dieser Punkt hat die Pharmaindustrie der wohlhabenden Länder lange Zeit aufgebracht. Europäische Pharmafirmen haben immer wieder aktiv versucht, dieses Gesetz vor indischen Gerichten anzufechten-  bis jetzt ohne Erfolg. Vor kurzem ist der deutsche Pharmakonzern Bayer bei seinem letzten Versuch, dem Generika-Wettbewerb einen weiteren Riegel vorzuschieben, gescheitert. Nachdem die Konzerne vor Gericht verloren haben, setzen sie nun auf die Handelspolitik der Europäischen Kommission und versuchen, den Generika-Wettbewerb in Indien zu blockieren.

„Wir wissen, dass Deutschland, Großbritannien und Frankreich hinter den Kulissen für ihre Pharmakonzerne eintreten und versuchen, den Wettbewerb aus Indien auszulöschen“ erklärt Michelle Childs, Kampagnenleiterin der Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen „Access to Essential Medicines“ anlässlich einer Protestkundgebung vor dem EU-Gebäude in Brüssel, in dem das Gipfeltreffen stattfindet.

Im Rahmen der Verhandlungen mit Indien drängt Europa auf die Festschreibung von Richtlinien, die den Wettbewerb einschränken würden, vor allem auf die so genannte Datenexklusivität, die den Markteintritt generischer Medikamente um bis zu zehn Jahre verzögern würde. Diese Datenexklusivität würde sogar auch für Produkte gelten, die nach dem indischen Gesetz nicht einmal Patentschutz genießen. Sie würde die Entwicklung  neuer Kombinationsprodukte, die in einer Tablette mehrere Wirkstoffe enthalten, blockieren, obwohl diese in Indien nicht unter Patentschutz stehen.

 

Leistbare Medikamente sind lebenswichtig

 

„Die EU ist dabei, ihren Pharmakonzernen eine Hintertür zu öffnen, durch die sie einen Monopolstatus erlangen können, wenn sie auf regulärem Weg kein Patent erhalten“ so Childs.

Generika aus Indien spielten in der Ausweitung der Aids-Therapien auf Entwicklungsländer eine wesentliche Rolle, weil das Land bis 2005 keinen Medikamenten Patentschutz gewährte. Dies ermöglichte es den Herstellern, leistbarere Medikamente zu produzieren und den Preis dafür um über 99 Prozent - im Vergleich zum vorangegangenen Jahrzehnt – zu drücken. Aber die Regeln der Welthandelsorganisation verpflichteten Indien 2005 dazu, auf Medikamente Patente zu vergeben. Dies hatte gravierende Auswirkungen auf den Zugang zu leistbaren Versionen der neueren Generation von HIV/Aids-Medikamenten. Einige davon – z.B. Raltegravir und Etravirin – wurden in Indien bereits patentiert. Die Regelungen, für die die EU nun eintritt, würden die Produktion leistbarer Medikamente noch weiter einschränken.

„Die europäischen Entscheidungsträger können ihre Augen vor der wachsenden Zahl von Menschen auf der ganzen Welt nicht verschließen, die sie auffordern, ihre Hände aus dem Spiel zu lassen, wenn es um leistbare Medikamente geht“ erklärt Childs. „Vage Zusicherungen, dass die Europäische Kommission nicht darauf abzielt, der Herstellung günstiger Medikamente zu schaden, reichen nicht aus, der Teufel liegt im Detail. Wir wollen nun eine klare Aussage vonseiten der Europäischen Kommission, dass die Datenexklusivität und andere schädliche Regelungen aus dem Freihandels-Abkommen herausgenommen werden.“

Diese Woche finden in Nairobi, Bangkog, Jakarta, Indien und Brüssel Proteste gegen die Auswirkungen der EU-Handelspolitik auf den Zugang zu Medikamenten statt.