“Kein Ort, den man Zuhause nennen könnte“ – zur Situation im Nordwesten Pakistans

Instabile Lage und kaum Gesundheitsleistungen - Ärzte ohne Grenzen versorgt Vertriebene
17.12.2014
Gul Bibi, 65, wurde aus ihrem Dorf in Upper Kurram Agency vertrieben und lebt nun seit drei Jahren mit ihrem Enkel als intern Vertriebene in in Sadda.
Noor Muhammad/MSF
Pakistan, 13.09.2014: Gul Bibi, 65, wurde aus ihrem Dorf in Upper Kurram Agency vertrieben und lebt nun seit drei Jahren mit ihrem Enkel in Sadda.

„Die nordwestliche Region von Pakistans ist infolge des Kriegs gegen den Terror Opfer von religiöser motivierter Gewalt, Militarisierung und Massenvertreibungen geworden", sagt Dr. Javed Ali, der für Ärzte ohne Grenzen die Gesundheitsprojekte in den Stammesgebieten (Federally Administered Tribal Areas, FATA) koordiniert. "Das hat dazu geführt, dass es kaum medizinisches Personal und Versorgung gibt." Die Situation der Vertriebenen habe sich zwar unter Sicherheitsaspekten etwas verbessert, so Dr. Javed Ali, doch der Mediziner betont, dass eine reguläre Basisversorgung mit einer Gesundheitseinrichtung für jeweils etwa 5.000 Menschen gebraucht werde. Die Leute sollen diese dann auch nutzen können, ohne um das eigene Leben fürchten zu müssen. Obwohl Ärzte ohne Grenzen daran gearbeitet hat, in der Region das Vakuum im Gesundheitswesen zu füllen, sind auf Provinz- und Bundesebene umfassende Anstrengungen erforderlich. Nur so können die Menschen richtig versorgt werden und sich die Entwurzelten wieder mehr zu Hause fühlen.

"Ein Zuhause zu haben ist wertvoll. Ich würde alles dafür tun, dorthin zurückkehren zu können", sagt die 65-jährige Gul Bibi im Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Sadda, der zweitgrößten Stadt in Kurram Agency, FATA . Das Krankenhaus ist voll von Frauen, die ihre Babys und Kinder in den Armen halten oder zu ihren Füßen schlafen. Es ist schwer, das Alter der Kinder einzuschätzen, denn die meisten sind mangelernährt und wirken viel jünger als sie eigentlich sind. Die meisten Kleinkinder werden hier behandelt, weil sie an Masern oder an Dehydrierung leiden. Ihre Eltern mussten weite Strecken zurücklegen, damit sie richtig behandelt werden. Denn durch die andauernde Gewalt in Kurram Agency gibt es kaum mehr eine medizinische Infrastruktur in der Region.

Die andere Seite des Krieges

In diesem Jahr hat Ärzte ohne Grenzen z.B. mehr als 200 Kinder wegen eines komplizierten Verlaufs von Masern in der Klinik in Sadda behandelt. In den meisten anderen Fällen hatten die Kinder eine Lungenentzündung oder eine Meningitis und brauchten dringend ärztliche Hilfe. "Es ist so ärgerlich, denn der Zustand vieler, die wir hier sehen, ist eigentlich vermeidbar", sagt Dr. Rahman Sakhi, einer der leitenden Mediziner bei Ärzte ohne Grenzen . "Die Menschen müssen unnötig leiden, weil alles militarisiert ist."

Seit medizinische Fachkräfte nur ganz eingeschränkt in die Gemeinden hinein dürfen, verschlimmern sich Krankheitsverläufe. Das lässt sich alles vermeiden, wenn beispielsweise Masern im Anfangsstadium behandelt werden. „Kein Kind sollte solche Schmerzen haben müssen", so Dr. Sakhi.

In Folge der Ereignisse nach den Anschlägen von 9/11 in den USA zerstörten Militante in FATA gezielt mehr als 175 Gesundheitseinrichtungen und 500 Schulen, berichtet der Menschenrechtsaktivist Nizam Khan Dawar. "Die anhaltende Gewalt schwächt das Gesundheitssystem und das bekommen Frauen und Kinder unverhältnismäßig stark zu spüren." Ärztinnen, Krankenschwestern und weibliche Kräfte aus dem Gesundheitswesen werden von militanten Kämpfern gezielt unter Druck gesetzt, damit sie ihre Arbeit aufgeben und zu Hause bleiben. "In vielen Bereichen hat sich die Bedrohungslage verschärft und das Gefühl der Einschüchterung", sagt Nizam.

Mehr als nur eine Nummer

Kurram Agency liegt in Pakistans Stammesgebiet und seit 2007 sind große Teile dieses Gebiets zu Kampfplätzen mutiert, weil der Konflikt im benachbarten Afghanistan hierher getragen wird. Die militanten Gruppen entfesselten ein blutiges Chaos, um Kontrolle über die Region zu gewinnen. Schulen und Kliniken, Häuser und ganze Dörfer fielen diesem grausamen Krieg zum Opfer, Hunderte wurden getötet und viele vertrieben. Dieses Gebiet war bis 2008 eine Hochburg der Taliban gewesen, bevor die pakistanische Armee in Kurram Agency militärisch operierte, um die militanten Gruppen zu vertreiben.

In den vergangenen drei Jahren hat sich in der Region eine beängstigende Ruhe breit gemacht, die jetzt von einem neuerlichen Bombenattentat auf einen Schulbus erschüttert wurde. Die Einwohner in der Region befürchten eine Zunahme von Gewalt, wenn die Zahl von US-Truppen weiter reduziert wird. Über ihr Leid wird weder in den Nachrichten noch in den Zeitungen berichtet. Ihre Namen und Lebensgeschichten verschwinden hinter Zahlen, die entweder Tote oder Vertriebene beziffern.

Kein Land für alte Frauen

Gul Bibi erzählt ihre Geschichte. Sie stammt aus einem Dorf im oberen Teil Kurrams, in dem fast 20.000 Menschen gelebt haben. Die 65-jährige wartet auf ihrem Bett im Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Sadda darauf, dass ihre acht Monate alte Enkelin behandelt wird, die unter Dehydrierung leidet.

"Wir lebten in Frieden. Wir hatten ein gutes Leben ", sagt sie über ihr zurückliegendes Leben in ihrem Dorf. "Vor drei Jahren hat sich dann alles verändert. Denn ‚sie' kamen in die Gegend, und nichts war mehr wie vorher". Während sie erzählt, nennt sie die militärischen Gruppen in ihrer Gegend niemals beim Namen. Zuerst wurde den Frauen gesagt, dass sie ihre Häuser nicht mehr verlassen sollen. Dann wurden Menschen willkürlich entführt. "Die Angst war überall spürbar", sagt sie. Nach und nach wurde die Gewalt immer brutaler und die Militanten begannen Häuser und Schulen niederzubrennen. "Ich sehe immer noch unser Dorf brennen, wenn ich meine Augen schließe und versuche zu schlafen."

Gul Bibi überzeugt ihren Mann zu fliehen, und sie schaffen es mit der aller größten Kraftanstrengung. Die vergangenen drei Jahre hat sie in einem Zelt gelebt, das zu dem Lager in der Nähe des Krankenhauses gehört. "Das ist kein Ort, an dem eine Frau in meinem Alter leben sollte", sagt sie. "Ich habe ein zu Hause, ein Dorf und ein Land, doch ich bin hier in diesem Zelt mit meiner Tochter, ihren Kindern, ihrem Mann und anderen Familienmitgliedern." Die Vertriebenen sind abhängig von staatlichen Hilfen oder von Nichtregierungsorganisationen. Die schlechten Lebensbedingungen, kaum sauberes Trinkwasser, die prekäre Gesundheitsversorgung und die Mangelernährung - diese Faktoren haben zum Tod von Dutzenden von Kindern im Zeltlager geführt, die an eigentlich heilbaren Krankheiten gestorben sind wie Magen-Darm-Entzündung, Typhus und Atemweginfektionen. Mitten in diesem Chaos, sehnt sich Gul Bibi nach einer sicheren Zukunft für ihre Enkelkinder, am liebsten in ihrem eigenen zu Hause.