Libyen: Gefangen auf der Flucht

25.07.2016
Hunderte Gespräche mit Flüchtlingen, die zwischen 2015 und 2016 gerettet wurden, haben ein alarmierendes Ausmaß von Gewalt und Ausbeutung gezeigt, dem Flüchtlinge, Migranten und Asylwerberinnen in Libyen ausgesetzt sind.
Search and Rescue Aquarius July 2016
Alva White/MSF
Women wait to disembark in Italy from the MSF Aquarius after being recued at sea in June 2016

Unabhängig von ihrem Herkunftsland oder der Fluchtursachen haben fast alle aus dem Mittelmeer Geretteten zuvor Libyen durchquert. Viele von ihnen haben dort extreme Gewalt, Festnahmen, Entführungen, Zwangsarbeit und Menschenhandel erlebt.

"Libyen ist ein sehr gefährlicher Ort. Es gibt eine Menge bewaffneter Menschen. Morde und Entführungen sind üblich“, sagt eine 26 Jahre alte Frau, die im August 2015 im Mittelmeer gerettet wurde. „Bei unserer Ankunft in Tripolis wurden wir mit 600 bis 700 anderen Menschen in einem Haus eingesperrt. Wir hatten sehr wenig zu essen, schliefen aufeinander und hatten kein Wasser um uns zu waschen. Es war vor allem auch für meine Tochter sehr schwer, die krank wurde. Es herrschte viel Gewalt. Ich wurde mit bloßen Händen, mit Stöcken und Gewehren geschlagen. Wenn du dich bewegst, wirst du geschlagen. Wenn du sprichst, wirst du geschlagen. Wir verbrachten Monate mit täglichen Schlägen.“

Hunderte Gespräche mit Flüchtlingen, die zwischen 2015 und 2016 gerettet wurden, haben ein alarmierendes Ausmaß von Gewalt und Ausbeutung gezeigt, dem Flüchtlinge, Migranten und Migrantinnen in Libyen ausgesetzt sind. Viele von ihnen erzählen, dass sie selbst direkte Gewalt erlebt haben, fast alle wurden Zeuginnen extremer Gewalt, von Schlägen, sexueller Gewalt und Mord. “Menschen verkaufen Menschen. Menschenhandel ist in Libyen normal,“ berichtet Maria. Die 26-Jährige aus Kamerun wurde im Juni 2016 von Ärzte ohne Grenzen im Mittelmeer gerettet. Sie war von vier bewaffneten Männern entführt, vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen worden. „Sie haben uns alles weggenommen. Jeder in Libyen hat eine Schusswaffe, sogar die Kinder. Ich habe dreieinhalb Monate in Libyen in zwei verschiedenen Häusern verbracht.“

Situation für Flüchtlinge in Libyen prekär

Die Situation in Libyen ist durch die Auswirkungen des Bürgerkrieges geprägt. Während Ministerien versuchen, ein Gefühl der Normalität zu vermitteln, bleibt das tägliche Leben auch für viele Libyer und Libyerinnen ein Kampf. Das Land ist nicht in der Lage, zehntausende Migrantinnen und Flüchtlinge zu unterstützen. Solange die Kämpfe zwischen rivalisierenden bewaffneten Gruppen andauern, bleibt die Situation prekär und gefährlich. 

Aus den Gesprächen mit Überlebenden geht hervor, dass Männer, Frauen und zunehmend auch unbegleitete Kinder, von denen einige nicht älter als zehn Jahre sind, Missbrauch durch Schmuggler, bewaffnete Gruppen und Privatpersonen ausgesetzt sind. Viele nutzen die Verzweiflung der Menschen aus, die vor Konflikten, Verfolgung oder Armut fliehen.. Die Betroffenen berichten von unmenschlichen Bedingungen, von Folter und Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, finanzieller Ausbeutung und Zwangsarbeit.

Versklavung und sexuelle Gewalt

Fünfzig Prozent der Menschen, die Ärzte ohne Grenzen 2015 interviewt hat, berichteten, dass sie oft monatelang gegen ihren Willen von der libyschen Polizei oder anderen Behörden, bewaffneten Gruppen oder kriminellen Banden eingesperrt wurden. Viele erzählen außerdem, dass Entführungen üblich sind, und die  Geiselnehmer die Familie oder Freunde der Entführten mit Lösegeldforderungen erpressen. Manchmal sind die Geiseln selbst in der Lage, ihre Freiheit zu erkaufen - oft mit in den Kleidern eingenähtem Geld.

Viele Menschen beschreiben auch, dass sie gewaltsam versklavt wurden. Männer wurden durch „Makler“  gezwungen, während des Tages auf Baustellen oder Farmen zu arbeiten. In der Nacht wurden sie in Privathäusern oder Lagerhallen eingesperrt; oft für mehrere Monate, bis sie sich freikaufen konnten. Viele Frauen berichten, dass sie in Gefangenschaft als Hausangestellte gehalten oder zur Prostitution gezwungen wurden.

Ein junger Mann aus Somalia berichtete nach seiner Rettung im Mai 2016: "Ich fühlte mich wie ein kostbares Gut, als ich von jemandem in Sudan für 2000 Dollar an einen Libyer verkauft wurde. Sudanesische und libysche Händler arbeiten zusammen - es ist wie ein Geschäft. Nachdem ich verkauft wurde, hielten sie mich und viele andere in einer Art Gefängnis. Ich arbeitete tagsüber auf Bauernhöfen und wurde in der Nacht wieder eingesperrt. Viele Menschen sind dort gestorben, weil sie krank wurden und keine Hilfe bekamen. Nachdem ich genug gearbeitet hatte, wurde ich freigelassen und konnte auf einem Boot entkommen."

„Gefühle der Verzweiflung“

"Jemand kommt wegen eines Hustens zu Dir, doch wenn er sein Hemd auszieht, sieht man all diese Narben von der Folter, die die Person erlitten hat, und man erkennt, dass sie gebrochene Knochen haben. Und dann erzählen sie all diese schrecklichen Geschichten. Ich habe mindestens 32 Patienten mit eindeutig gewaltbedingten Verletzungen während der letzten zwölf Rettungsaktionen gesehen“, sagt Erna Rijnierse, Ärztin auf dem Rettungsschiff Aquarius, das Ärzte ohne Grenzen gemeinsam mit der Organisation SOS Mediterranée betreibt.

Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der medizinischen Teams auf den drei Rettungsschiffen von Ärzte ohne Grenzen im Mittelmeer sind Zeugen der physischen und psychologischen Gewalt, die die Menschen in Libyen erlitten haben. In den vergangenen Monaten haben Ärztinnen einen Mann behandelt, der eine wochenalte infizierte Wunde durch eine Machetenhieb auf seinem Unterarm hatte; eine junge Frau, die so viele Schläge auf den Kopf erhalten hatte, dass ihr Trommelfell perforiert war; einen Mann mit starken Schwellungen, nachdem er in die Genitalien geschlagen wurde; einen Mann mit einem gebrochenen Schlüsselbein und umfangreichen Narben über den ganzen Rücken als Folge der Schläge, die er während der Haft erhalten hatte; und einen Mann, der immer wieder und so heftig mit einer Kalaschnikow geschlagen wurde, dass die Knochen in seiner Hand zerschmettert waren. 

Paola Mazzoni ist als Ärztin auf der Bourbon Argos tätig: „Seitdem ich angekommen bin, habe ich einige Menschen mit Brüchen und großen Wunden auf Kopf, Rücken, Armen und Beinen gesehen, die sie während ihrer Zeit in Libyen davongetragen haben.“ Während die Wunden mancher sichtbar sind, starren andere Überlebende nur still auf den Horizont. "Die Gefühle der Verzweiflung sind stark unter den Frauen, die ich während der medizinischen Behandlungen an Bord treffe. Sie erzählen mir von den schrecklichen Erfahrungen, die sie auf der Durchreise durch Libyen gemacht haben. Es gibt Frauen, die vergewaltigt wurden, und es gibt ungewollte Schwangerschaften“, so Dominique Luypaers, Hebamme auf der Bourbon Argos.

Legale Fluchtwege schaffen

Flüchtlinge, Migranten und Migrantinnen, die verzweifelt versuchen Libyen zu verlassen, erwartet meist eine gefährliche Seereise. Bei den Schlepper-Booten handelt es sich meist um kleine Boote, die fast immer überfüllt sind. Die Passagiere sind der Gefahr von Austrocknung, Erstickung, Verbrennungen durch Benzin und Ertrinken ausgesetzt. Die Boote sind oft nicht seetüchtig genug, um Europas Küsten zu erreichen. Ohne Rettung sind die Passagiere mit dem sicheren Tod konfrontiert.

Ärzte ohne Grenzen fordert, dass jeder Mensch, der Asyl beantragen möchte, gehört, und jeder Antrag individuell geprüft wird. Ohne ein funktionierendes Asylsystem in Libyen können Schutzsuchende nicht in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention behandelt werden. Da Libyen diese nicht ratifiziert hat und sich selbst erst von einer humanitären Krise erholen muss, können die EU-Länder nicht davon ausgehen, dass die Rechte von Flüchtlingen in Libyen gewährleistet werden. EU-Länder sollten daher Flüchtlingen die Chance, Europa zu erreichen, nicht verwehren.

Ärzte ohne Grenzen war 2015 erstmals mit mehreren Rettungsschiffen im Mittelmeer im Einsatz, um Bootsflüchtlinge in Seenot zu helfen und sie medizinisch zu versorgen. Auch seit April 2016 sind Einsatzteams unterwegs, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Die Teams haben insgesamt mehr als 25.000 Menschen aus Booten in Seenot gerettet.