“Mein Einsatz in Gaza hätte am Tag der Militäroffensive enden sollen – doch ich blieb”

Krankenschwester Sarah Woznick berichtet aus Gaza
23.07.2014
Die u.s.-amerikanische Krankenschwester Sarah Woznick mit zwei Kollegen in der intensivmedizinischen Abteilung des Nasser Krankenhauses.
Gaza-Stadt, Palästinensische Gebiete, 02.07.2014: Die u.s.-amerikanische Krankenschwester Sarah Woznick mit zwei Kollegen in der intensivmedizinischen Abteilung des Nasser Krankenhauses.

Krankenschwester Sarah Woznick begann vor sechs Monaten ihren Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen in Gaza. Die U.S.-Amerikanerin stammt aus Denver, Coloardo, und ist spezialisiert auf intensivmedizinische Behandlungen. Ihr Einsatz hätte an genau jenem Tag enden sollen, als die Militäroffensive „Fels in der Brandung“ startete. Daher entschloss sie sich spontan dazu, in Gaza zu bleiben und das Team in dieser schwierigen Situation weiter zu unterstützen und damit die medizinische Hilfe von Ärzte ohne Grenzen aufrecht zu erhalten.

Meine Aufregung war groß, als ich erfuhr, dass mein erster Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen in Gaza sein würde. Nicht nur, weil meine Spezialisierung in diesem bestimmten Projekt besonders gebraucht wurde, sondern auch wegen der Möglichkeit, diesen speziellen Kontext selbst in der Realität zu erleben. Bei meiner Ankunft wurde ich von sehr lieben Menschen herzlich willkommen geheißen. Gaza ist auf eine eindrucksvolle Weise paradox: Auf der einen Seite fehlt der Zugang zu den elementarsten Dingen des Lebens, doch andererseits gibt es zum Beispiel Luxushotels am Strand.

Ich arbeitete in der Intensivstation des Nasser Krankenhauses und musste feststellen, dass es an grundlegendsten Materialen wie zum Beispiel Handschuhen mangelte. Zuhause hätte ich mir gar nicht vorstellen können, dieses Wegwerfgut in Rationen einteilen oder gar ohne es auskommen zu müssen. Dieser Moment hat mir die Augen geöffnet. Die palästinensische Pflegeleiterin pflegte zu sagen: „Vergiss nicht, dass wir in Gaza sind. Hier gibt es immer Engpässe.” Und das, obwohl Gaza bei Weitem keine unterentwickelte Region ist!

Großes Engagement trotz schwieriger Bedingungen

Auf Grund der Blockaden konnten keine unserer MitarbeiterInnen Gaza verlassen, um ihr Wissen zu erweitern oder Trainings in Anspruch zu nehmen. Deshalb versuchten wir, sie so gut wie möglich hier vor Ort zu unterstützen. Unsere KollegInnen in Nasser arbeiten unter sehr herausfordernden Bedingungen. Viele von ihnen haben seit Monaten kein Gehalt mehr ausgezahlt bekommen oder nur ab und zu kleine Anteile davon erhalten. Doch sie gehen nicht weg. Sie wissen, dass sie sofort ersetzt werden könnten, wenn sie nicht mehr zur Arbeit kommen. Ein kleiner Teil des Gehalts ist besser, als gar keinen Job zu haben. Und die meisten von ihnen sind wirklich sehr engagiert bei der Betreuung ihrer PatientInnen – was auch immer dazu nötig ist.

Einmal gab es eine große Auseinandersetzung zwischen einigen Teammitgliedern der Intensivstation. Sie kamen zu mir und sagten: „Du weißt, dass wir hier alle unter sehr großem Stress stehen.“ Mir selbst wurde erst klar, wie groß der Druck auch für mich war, als wir auf den Bauernhof von einem unserer Ärzte eingeladen wurden. Ich atmete tief durch und realisierte, dass ich schon eine ganze Weile nicht mehr entspannt gewesen war… Gaza ist sehr urban und ein stark besiedeltes Gebiet, doch dir sind die Auswirkungen dieser Lebensbedingungen gar nicht bewusst, bis du sie für eine Zeit hinter dir lassen kannst. Doch die meisten der Menschen hier haben diese Möglichkeit gar nicht.

Luftangriffe und stetige Anspannung

Mein Abreisetag aus Gaza war bereits fixiert – doch nur einen Tag davor startete die Militäroffensive „Fels in der Brandung“. Am ersten Tag gab es zahlreiche Luftangriffe in unserer Gegend. Es ist ein sehr seltsames Gefühl, wenn du spürst, dass nicht weit von dir eine Bombe fällt. Du weißt, dass du sicher bist, weil Ärzte ohne Grenzen kein Ziel der Angriffe ist, aber dein Körper weiß das nicht und setzt eine Menge Adrenalin frei – dein Herz schlägt schneller, und du stehst unter Hochspannung. Mittlerweile habe ich mich schon etwas daran gewöhnt, aber manchmal schrecke ich immer noch hoch. Meistens denken alle von uns an unsere palästinensischen KollegInnen, wir machen uns Sorgen um sie. Das Areal von Ärzte ohne Grenzen ist ein sicherer Ort, aber ihre Häuser sind es vielleicht nicht.

Seit dem neuerlichen Ausbruch des Krieges bin ich für die Leitung der postoperativen Klinik verantwortlich und für die Vorbereitung der Notfall-Spenden für Krankenhäuser in unserer Apotheke. Wir haben die Klinik fast täglich geöffnet, alle Mitglieder des kleinen Teams leben in der Nähe der Klinik – ein Physiotherapeut, eine Krankenschwester und ein Mitarbeiter für die Aufnahme der PatientInnen. Ihr Transport wird mit einem Auto von Ärzte ohne Grenzen organisiert: Sie werden zu Hause abgeholt und auch wieder dorthin zurückgebracht, damit sie nicht zu Fuß gehen müssen.

40% der Fälle sind Kinder unter 5 Jahren

Meine Rolle besteht hauptsächlich darin, den Überblick über alle Aktivitäten zu behalten. Doch wenn die Klinik an manchen Tagen auf Grund der Bombardements geschlossen bleibt und trotzdem PatientInnen zu uns kommen, wechsle ich selbst die Verbände. Die schwierigsten Verbände sind die von kleinen Kinder, denn sie verstehen nicht, was passiert, und schauen dich erstaunt an, was du mit ihnen machst. Rund 40% aller neuen Fälle, die seit dem Ausbruch des Krieges zu uns kamen, sind Kinder im Alter von fünf Jahren oder jünger. Ich erinnere mich an ein fünfjähriges Mädchen, das am gesamten Rücken durch heißes Wasser verbrannt worden war – solche Verletzungen sehen wir oft. Doch sie wurde verbrannt, als sie unter Beschuss in heißes Wasser lief.  Sie weinte und ihre Eltern trösteten sie, doch die Angst war ihr ins Gesicht geschrieben. Ich frage mich, wie es ihr nun geht – denn die Familie ist leider nicht mehr für die Nachbehandlung in die Klinik gekommen.

Ein anderes Mädchen im Alter von ungefähr zehn oder elf Jahren kam nach einem häuslichen Unfall zu uns, sie hatte sich ihren Arm mit heißem Tee verbrannt. Sie kam alleine in die Klinik. Unser Koordinator Nicolas fragte sie: „Hast du denn gar keine Angst, ganz alleine auf der Straße zu gehen?“ – sie antwortete: „Weißt du, wir werden alle eines Tages sterben.“ Sie kam mir so viel älter vor als sie eigentlich in dieser Phase ihres Lebens hätte sein sollen. Einer meiner palästinensischen Kollegen erzählte mir, dass sich seine Kinder sofort unter dem Tisch verstecken, sobald sie eine Explosion hören. Ein anderer erzählte: „Meine Kinder halten sich alle an mir fest, als ob ich sie schützen könnte – doch das kann ich gar nicht.“ Es muss sich schrecklich anfühlen, als Elternteil zu wissen, dass man seine Kinder nicht beschützen kann.

Zurück in meiner Heimat werde ich auf jeden Fall meine Erfahrungen in Gaza teilen. Vor allem in meinem Heimatland, den U.S.A., versteht nicht jeder die Komplexität dieses Konflikts – die meisten Menschen sind nicht besonders gut darüber informiert. Es wird für mich sehr schwer sein, zu gehen, und ich werde tagtäglich an die Menschen hier denken. Auch wenn die derzeitige Krise vorbei ist, werde ich an all meine Freunde denken, die an einem Ort leben, wo sie in vielerlei Hinsicht eingeschlossen sind. Ich wünsche mir für sie so viele Dinge – Freiheiten und Wahlmöglichkeiten, die sie hätten, wenn sie nicht von Mauern umgeben wären.