Nigeria: Konflikt zwingt tausende Menschen zur Flucht auch in die Nachbarländer

25.06.2015
Aufgrund des Konflikts zwischen Boko Haram und dem nigerianischen Militär sind permanent tausende Menschen auf der Flucht.
Cameroon- Medical care for people fleeing Boko Haram conflict
Naoufel Dridi/MSF
Kamerun, 23.03.2015: Ärzte ohne Grenzen versorgt im Norden Kameruns nigerianische Flüchtlinge, die vor den Boko Haram Angriffen flüchten mussten. Im Mokolo Krankenhaus führen unsere Teams ärztliche Untersuchungen für mangelernährte Kinder durch.

Aufgrund des Konflikts zwischen Boko Haram und dem nigerianischen Militär und immer wieder aufflammenden Übergriffen auf Zivilisten im Bundesstaat Borno, im Nordosten Nigerias, sind permanent tausende Menschen auf der Flucht. Sie sind auf der Suche nach einer Heimat und vor allem nach Sicherheit.

Laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) gibt es heute mehr als 1,5 Millionen Vertriebene in der Region, die meisten von ihnen sind aus dem Nordosten Nigerias. Rund 157.000 Menschen flohen jedoch seit Januar 2015 in die Nachbarländer Niger, Tschad und Kamerun. Aber auch in diesen Ländern sind die Menschen von temporären grenzüberschreitenden Angriffen und Militäroffensiven bedroht. Diese führten zu dutzenden Opfern und landesweiter Vertreibung. Erst diese Woche, am Mittwochabend, wurden bei einem Angriff auf zwei Dörfer im Südosten von Niger zahlreiche Menschen getötet. Zwei Tage zuvor, am 15. Juni 2015, erschütterten zwei Bombenanschläge N’Djamena, die Hauptstadt des Tschad. Angeblich stehen diese Angriffe in Verbindung zu Boko Haram.

Die Krise in Nigeria verschärft die ohnehin schon prekäre Lebenssituation einer extrem benachteiligten Bevölkerung. Angesichts der andauernden Unsicherheit fällt es humanitären Organisationen enorm schwer, sich ein klares Bild von den Bedürfnissen der Menschen in der Region zu machen. Ärzte ohne Grenzen ist eine der wenigen Organisationen, die in der Region überhaupt arbeitet. Unsere Teams unterstützen die nationalen Behörden der vier betroffenen Länder rund um den Tschadsee, um das Leid der Bevölkerung zu lindern.

Nigeria: Mehr als eine Million Vertriebene

Die Sicherheitslage im Bundesstaat Borno ist weiterhin extrem unbeständig und angespannt. Es gibt dort mehr als eine Million Vertriebene. Rund 400.000 von ihnen leben heute in Maidaguri, der Hauptstadt der Region. Vielen von ihnen wird von lokalen Gemeinden geholfen. 77.758 Flüchtlinge sind auf 13 verschiedene Lager für landesintern Vertriebene über die ganze Stadt verteilt. Ärzte ohne Grenzen leistet in vier Lagern eine medizinische Grundversorgung für mehr als 34.300 Menschen. Jede Woche führen unsere Teams Hunderte Untersuchungen durch, vor allem bei Kindern unter fünf Jahren. Zudem kümmert sich die Organisation um die Bereitstellung der Wasserversorgung (über zwei Millionen Liter pro Monat) und richtete ein System zur Gesundheitsüberwachung in fünf Flüchtlingslagern ein.

Angesichts der weitgehend stabilen Situation in den Lagern ist das vorrangige Ziel von Ärzte ohne Grenzen derzeit, sicherzustellen, dass auch die Vertriebenen unterstützt werden, die bei der lokalen Bevölkerung Zuflucht gefunden haben. Daher hat die Organisation eine Klinik am Maimusari-Gesundheitszentrum im Bezirk Jere errichtet. Im Armenviertel der Stadt Maiduguri können somit 120.000 Menschen versorgt werden. Unsere Teams behandeln sowohl Flüchtlinge als auch die lokale Bevölkerung. Die Anlage umfasst eine Mutter-Kind-Klinik mit 12 Betten sowie weitere 60 Betten für Patienten und Patientinnen in den Bereichen Kinderheilkunde, Ernährung und Intensivmedizin.

Niger: Menschen suchen rund um den Tschadsee Zuflucht

Laut dem Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), halten sich derzeit 175.000 Vertriebene in der Region Diffa im Südosten des Niger auf. Viele von ihnen kamen erst vor kurzem. Nach einem tödlichen Angriff von Boko Haram hatten die Behörden alle Menschen aufgefordert, die sich rund um den Tschadsee niedergelassen hatten, die Gegend zu verlassen. Rund 25.000 Vertriebene sind nun in zwei Lagern untergebracht. Eines steht in Bosso, ein weiteres in Nguigmi. Beide Städte befinden sich in der Nähe des Tschadsees.

Ärzte ohne Grenzen unterhält in beiden Lagern mobile Kliniken. Dadurch können die Teams eine grundlegende Gesundheitsversorgung leisten und die völlig isolierten Flüchtlinge, wenn nötig, in das Krankenhaus in Diffa bringen. Zudem betreibt Ärzte ohne Grenzen das regionale Mutter-Kind-Gesundheitszentrum in der Stadt Diffa. Dieses besteht aus einer Entbindungsstation, einer Kinderstation und dem Labor. In der Umgebung unterstützt Ärzte ohne Grenzen drei weitere Gesundheitszentren in den Städten Geskerou, Ngaroua und Nguigmi. Hier wurden bis zum jetzigen Zeitpunkt im Jahr 2015 mehr als 16.000 Sprechstunden durchgeführt. 65 Prozent der Patienten und Patientinnen waren Kinder unter fünf Jahren.

Die Situation könnte sich in den kommenden Wochen zuspitzen, wenn die Regenzeit beginnt und sich die sanitären Bedingungen in den Lagern verschlechtern. Die Gefahr eines Cholera-Ausbruchs nimmt damit zu. Außerdem muss mit einem weiteren Anstieg von Mangelernährung und Malaria-Fällen gerechnet werden. „Die wichtigsten Bedürfnisse der Flüchtlinge sind Unterkünfte, Wasser, sanitäre Einrichtungen, Gesundheitsversorgung und Schutz. Es gibt allerdings noch andere Organisationen, die in diesen Bereichen aktiv sind", sagt Aissami Abdou, Projektkoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Diffa.

Kamerun: Täglich neue Flüchtlinge im Norden des Landes

Einige Kilometer östlich, in Kamerun, bleibt die Sicherheitslage entlang der nigerianischen Grenze instabil, da Boko Haram regelmäßig ins Land eindringt. Täglich kommen in den von der Regierung errichteten Camps im äußersten Norden Flüchtlinge an.

„Ich bin gerade erst mit meinem Mann und unseren vier Kindern in Gawar angekommen. Kämpfer von Boko Haram haben unsere drei Töchter entführt. Wir wissen nichts von ihnen, wir können nur für sie beten“, sagt Emanuelle, eine von 40.000 Geflüchteten, die in einem der beiden Camps in Minawao und Gawar untergekommen sind. In den Lagern arbeitet Ärzte ohne Grenzen mit den nationalen Behörden und anderen humanitären Organisationen zusammen und stellt eine grundlegende Gesundheitsversorgung, Wasser und Sanitäranlagen zur Verfügung. Momentan sorgt Ärzte ohne Grenzen für 60 Prozent der Wasserlieferungen und führt rund 500 medizinische Untersuchungen im Monate durch.

„Das Bevölkerungswachstum, das durch die zahlreichen Vertriebenen hervorgerufen wird, birgt ein reales Risiko von Nahrungsmittelunsicherheit in der Region“, sagt Hassan Maiyaki, Landeskoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Kamerun. „Wir verstärken jetzt unsere Unterstützung für das intensivtherapeutische Ernährungszentrum im Krankenhaus von Mokolo, in dem wir Geflüchteten, Vertriebenen und der lokalen Bevölkerung Kinderkrankenpflege und Ernährungsversorgung anbieten, wenn ein Klinikaufenthalt notwendig ist.“ Ärzte ohne Grenzen ist außerdem in Kousseri, an der Grenze zum Tschad präsent, wo rund 30.000 Vertriebene über die Stadt verteilt sind. Unsere Teams stellen chirurgische Unterstützung im städtischen Krankenhaus zur Verfügung und haben dort im Mai 36 Patienten und Patientinnen behandelt.

Tschad: 18.000 Menschen vor der Unsicherheit geflohen

Ende Februar begann Ärzte ohne Grenzen in der Region um den Tschadsee auf die Vertreibungen, ausgelöst durch Boko Haram, zu reagieren. Nach Angaben des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) befinden sich zurzeit rund 18.000 Nigerianer und Nigerianerinnen im Tschad, die dort vor der Unsicherheit in ihrem Land Zuflucht gesucht haben. Die Region um den Tschadsee ist eine der ärmsten des Landes, mit einer niedrigen Durchimfpungsrate und einem hohen Risiko von Epidemien.

Boko Haram stellt auch im Tschad eine Bedrohung dar und ist rund um den See aktiv. Die Sicherheit im Land verschlechtert sich zusehends. Im Februar kam es zu einem Angriff in Ngouboua, der tausende Einwohner und Geflüchtete zur Flucht zwang. Am 15. Juni gab es in der Hauptstadt N´Djamena zwei Bombenanschläge, die angeblich Boko Haram zuzuschreiben sind, und 27 Menschen das Leben kosteten und 101 weitere verletzten. Ärzte ohne Grenzen unterstützte das Gesundheitsministerium, indem es chirurgische und medizinische Kits zur Versorgung der vielen Patienten und Patientinnen zur Verfügung stellte. Des Weiteren organisierten unsere Teams vor Ort ein Training und eine Simulation zum Umgang mit zahlreichen Verletzten im Allgemeinen Krankenhaus.

Ärzte ohne Grenzen betreibt momentan auch mobile Kliniken in Forkouloum, in denen wöchentlich rund 850 Menschen vor allem mit Durchfall und Atemwegsinfektionen untersucht und behandelt werden. Viele der Kranken sind tschadische Einwohner, die von der Gewalt im Land vertrieben wurden. Eine unserer Hauptaktivitäten ist daher die psychologische Unterstützung der Menschen. Unsere Teams führen Einzel- und Gruppengespräche im Lager von Dar as Salam durch. Die medizinische Versorgung und psychologische Unterstützung wird auch Opfern sexueller Gewalt zur Verfügung gestellt. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hat Ärzte ohne Grenzen rund 223 psychologische Konsultationen durchgeführt.

In Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden haben unsere Teams außerdem 6.000 Menschen in Ngouboua, Bagasola und rund um Forkouloum mit Hygiene-Kits und Notunterkünften versorgt, die Decken, Plastikplanen und Moskito-Netze zum Schutz gegen Malaria umfassen.