Wirtschaftskrise, Corona, Explosion - Krisen im Libanon

Wirtschaftskrise, politische Instabilität und soziale Spannungen: Seit Ende 2019 befindet sich der Libanon in einer massiven Krise.
20.01.2021
MSF's clinic in Arsal
Karine Pierre/Hans Lucas for MSF Instagram: @pics_stone
Patients in the waiting room of MSF's clinic in Arsal. MSF has been providing free primary healthcare to vulnerable communities in Arsal, in the north of Bekaa Valley, since 2012. MSF’s clinic in Arsal offers medical care for patients with non-communicable chronic diseases (NCD), acute paediatric consultations, sexual and reproductive health services and mental health support.

Wirtschaftskrise, politische Instabilität und soziale Spannungen: Seit Ende 2019 befindet sich der Libanon in einer massiven Krise. Auch die COVID-19-Pandemie hat das Land stark getroffen. Dann auch noch die verheerende Explosion, die im August 2020 die Hauptstadt Beirut erschütterte. Der Hilfebedarf in der Bevölkerung ist gestiegen. Tausende wurden in die Armut getrieben. Hinzu kommt, dass der Libanon im Vergleich zu seiner Einwohnerzahl weltweit am meisten Geflüchtete aufnimmt.

"Diese Situation hat die Probleme in der Bevölkerung weiter verschärft. Wegen der Wirtschaftskrise und der steigenden Kosten haben viele Menschen zunehmend Mühe, sich Grundgüter wie Lebensmittel zu leisten", erklärt Caline Rehayem, unsere stellvertretende medizinische Koordinatorin im Libanon. "Auch Arztkosten sind für besonders bedürftige Personen nahezu unerschwinglich geworden. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung wird somit erschwert, was zu einer allgemeinen Verschlechterung des Gesundheitszustands der Bevölkerung führt." 

So hatten die Teams in unseren Kliniken im vergangenen Jahr zahlreiche Patientinnen und Patienten, die wegen der Wirtschaftslage in finanzielle Schwierigkeiten gerieten. Einige sind deshalb nicht mehr in der Lage, sich notwendige Medikamente zu leisten. Auch die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Menschen sind sichtbar – dies bereitet Ärzte ohne Grenzen besondere Sorge.

Immer mehr sind von Armut betroffen

"Vor zwei Monaten hat mein Mann seine Stelle verloren. Wir waren schon immer arm, aber vorher kamen wir irgendwie zurecht", sagt Fatima, eine 58-jährige Libanesin. Sie lebt in Hermel und leidet an Diabetes. "Wir ernähren uns vor allem von Linsen, Bulgur und Kartoffeln. Das ist für mich nicht ideal, aber es ist das, was wir uns leisten können. Ohne Ärzte ohne Grenzen wäre ich für meine Medikamente auf die Wohltätigkeit von anderen angewiesen."

 

Overlapping crises in Lebanon
Karine Pierre/Hans Lucas for MSF Instagram: @pics_stone

Fatima ist fast blind und hat einen schwer verletzten Fuß aufgrund von Komplikationen mit ihrer Diabetes. Sie braucht die Hilfe ihrer Tochter, um laufen zu können.

Für Diabetikerinnen ist eine ausgewogene Ernährung zentral, damit sie die Blutzuckerwerte im Griff haben und die Risiken für Komplikationen verringern können. In unseren Kliniken im ganzen Land klagen jedoch Patienten, dass sie nur schwer an Lebensmittel wie Fleisch, Huhn oder gewisse Gemüsesorten kommen. 

Laut der UNO ist über die Hälfte der libanesischen Bevölkerung von Armut betroffen, das entspricht mehr als einer Verdopplung gegenüber dem Vorjahr. (https://www.unescwa.org/news/Lebanon-poverty-2020) Von den syrischen Geflüchteten im Land leben gemäß Schätzungen 89 Prozent in extremer Armut (https://unscol.unmissions.org/nine-out-ten-syrian-refugee-families-lebanon-are-now-living-extreme-poverty-un-study-says), was bedeutet, dass sie mit weniger als 10 000 libanesischen Pfund (ca. € 5.50) am Tag auskommen müssen. 

Immer mehr Libanesinnen und Libanesen haben sich deshalb letztes Jahr an Ärzte ohne Grenzen gewendet, weil sie sich ihre Arztkosten nicht mehr leisten konnten. In unserer Klinik in Hermel, im Norden der Bekaa-Ebene, hat sich die Zahl der libanesischen Patientinnen und Patienten mit chronischen Krankheiten zwischen 2019 und 2020 mehr als verdoppelt. In Arsal, einer anderen Stadt in der Bekaa-Ebene, hat die Zahl der pädiatrischen Konsultationen innerhalb eines Jahres ebenfalls um 100 Prozent zugenommen.

"Preise um das Vierfache gestiegen"

Schon zuvor konnten sich viele medizinische Leistungen kaum leisten, da das libanesische Gesundheitssystem in hohem Maß privatisiert ist. Die jährliche Inflationsrate, die im November bei 133 Prozent* lag, hatte sowohl für die libanesische Bevölkerung als auch für Geflüchtete direkte Auswirkungen, was den Zugang zu medizinischer Versorgung betrifft. 

 

Overlapping crises in Lebanon
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Ahmed mit drei seiner Kinder in ihrer Notunterkunft.

Ahmed ist ein syrischer Flüchtling, der mit seiner Familie in einer informellen Zeltsiedlung außerhalb Arsals lebt. Vor vier Monaten wurde bei seiner jüngsten Tochter, der eineinhalb Jahre alten Zeinab, eine Anämie (Blutarmut) diagnostiziert. "Sie machte einen sehr kranken Eindruck. Sie war ganz blass und aß fast nichts mehr", erinnert sich Ahmed. "Der Arzt verschrieb uns ein Eisenpräparat und empfahl uns, ihr mehr Gemüse und Hülsenfrüchte zu geben, denn Fleisch können wir uns unmöglich leisten. Die Preise sind um das Vierfache gestiegen, und es wird nur noch schlimmer."

  * https://www.arabianbusiness.com/politics-economics/456350-lebanons-inflation-rate-registers-rare-dip-but-still-tops-133-in-november  

Eine Krise nach der anderen

Im öffentlichen Gesundheitssystem gab es wegen der Finanzkrise schon vor der Corona-Pandemie regelmäßig Engpässe bei Medikamenten und medizinischem Material. 

Durch die Explosion im August wurden öffentliche Einrichtungen wie Spitäler zerstört. Auch das Zentrallager der Gesundheitsbehörde wurde stark beschädigt.

Im Rahmen unseres Notfalleinsatzes nach der Explosion führten Ärzte ohne Grenzen Teams bei 253 zufällig ausgewählten Patientinnen und Patienten mit chronischen Krankheiten eine Umfrage  durch. Diese ergab, dass 29 Prozent von ihnen schon vor der Explosion ihre Medikamente abgesetzt hatten oder nicht mehr vollumfänglich einnahmen. Fast die Hälfte der Befragten gab an, dass finanzielle Schwierigkeiten der Grund dafür waren, bei elf Prozent waren es Medikamentenengpässe.

"Mein Sohn oder ich"

"Wenn ich ins Gesundheitszentrum gehe, höre ich oft, dass keine Medikamente verfügbar sind. In den Apotheken gibt es ähnliche Probleme", erzählt die Libanesin Mariam, Mutter von acht Kindern, die in Abdeh im Norden lebt. Mariam leidet an mehreren chronischen Krankheiten, darunter an Diabetes und Herz-Kreislauf-Problemen. Ihr jüngster Sohn hat Asthma. 

 

Overlapping crises in Lebanon
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Aufgrund der wirtschaftlichen Situation und der COVID-19-Pandemie kann Mariam nur noch zweimal pro Woche Reinigungsjobs finden und nicht mehr jeden Tag, wie sie es gewohnt war.

"Ich bekomme Angst, wenn ich daran denke, was wäre, wenn ich nicht mehr arbeiten könnte. Wie könnte ich dann all die Medikamente kaufen? Ich müsste mich wohl zwischen den Medikamenten für meinen Sohn und meinen eigenen entscheiden."

Seit der Explosion hat das Gesundheitswesen auch mit der steigenden Zahl der COVID-19-Erkrankungen zu kämpfen. Betrug die Zahl der Neuansteckungen vor der Explosion pro Tag weniger als 200, lag sie im Dezember bei durchschnittlich 1500 pro Tag. 

Verstärkte COVID-19-Hilfsmaßnahmen

Um das Gesundheitssystem zu entlasten, hat Ärzte ohne Grenzen die COVID-19-Hilfsmaßnahmen ab August 2020 verstärkt. So haben wir unser Spital in Bar Elias in der Bekaa-Ebene in ein Behandlungszentrum für COVID-19-Patientinnen und Patienten umfunktioniert. Dieses hat 20 Betten, fünf davon für Intensivpflege. Die Intensivstation ist seit Ende September ständig voll belegt. Ärzte ohne Grenzen unterstützt auch eine Isolierstation in Sibline im Süden des Landes. Unsere Teams helfen zudem an mehreren Orten im Land bei Testaktivitäten, Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und bei Schulungen zum Thema COVID-19 mit.

Ausganssperren verschlimmern die wirtschaftlichen Probleme zusätzlich. «Mein Mann arbeitete als Tagelöhner in der Landwirtschaft oder auf dem Bau. Mit der Wirtschaftskrise und jetzt mit dem Coronavirus ist das schwierig geworden. Er arbeitet nur noch zwei bis drei Tage pro Woche, und manchmal hat er zwei Wochen nichts. Wenn er keine Arbeit findet, müssen wir uns Geld von den Nachbarn leihen, um Essen kaufen zu können», erzählt Samaher, 40 Jahre, aus Syrien. Sie lebt in einer informellen Siedlung im Gouvernement Akkar, in der Nähe der syrischen Grenze.

 

Overlapping crises in Lebanon
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Samaher leidet an Diabetes. Die Beschaffung von Insulin bereitet ihr oft Sorgen. Viele Dinge bereiten ihr zurzeit Sorgen ...


Jede Krise zerrt an der Widerstandsfähigkeit der Menschen

Viele Menschen im Libanon – ob Einheimische oder Geflüchtete - hatten bereits vorher mit traumatischen und belastenden Erfahrungen in Zusammenhang mit Krieg oder Vertreibung zu kämpfen. Die immer schlechteren Lebensbedingungen infolge der Wirtschaftskrise sind nun noch eine zusätzliche Bürde für sie. Diese Stressfaktoren haben sich auch auf das psychische Wohlergehen der Bevölkerung ausgewirkt. Zahlreiche Patientinnen und Patienten, die bei uns psychologische Hilfe suchen, leiden an Depression, Ängsten und Verzweiflung. 

Jetzt unsere Teams unterstützen

Jede weitere Krise zerrt an der Widerstandskraft der Menschen, weiterzumachen wird immer schwieriger. 

Tawfik
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Tawfik and his wife are sitting in their room. Tawfik is 70 years old. He lives in Shatila, a densely populated refugee camp in Beirut. This Palestinian refugee, who is married to Hanadi, a Syrian woman, settled in Lebanon with his family in 2011 after fleeing their home in Yarmouk, in Syria. Tawfik’s family relies entirely on UN agencies and humanitarian organizations to survive. Seven years ago, Tawfik learned that he had diabetes following a severe infection in the leg. The wound complications led to an amputation. "In Syria, I used to work as a tiler but now with my condition, I can’t do anything to support my family. All our children are unemployed. Without the assistance we receive from charities, I don’t even know how we would survive. I feel down and useless. The economic situation in Lebanon is a disaster. I only hope we won’t end up in the streets,” says Tawfik. “We are so tired,” adds Hanadi, his wife, unable to hold back her tears as she speaks.
Tawfik
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Tawfik has to take insulin every day in addition to around six other pills to help control his diabetes and hypertension. Tawfik is 70 years old. He lives in Shatila, a densely populated refugee camp in Beirut. This Palestinian refugee, who is married to Hanadi, a Syrian woman, settled in Lebanon with his family in 2011 after fleeing their home in Yarmouk, in Syria. Tawfik’s family relies entirely on UN agencies and humanitarian organizations to survive. Seven years ago, Tawfik learned that he had diabetes following a severe infection in the leg. The wound complications led to an amputation. "In Syria, I used to work as a tiler but now with my condition, I can’t do anything to support my family. All our children are unemployed. Without the assistance we receive from charities, I don’t even know how we would survive. I feel down and useless. The economic situation in Lebanon is a disaster. I only hope we won’t end up in the streets,” says Tawfik.
Fatima
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Fatima is sitting in front of her in-laws' house. Fatima lives in Hermel, in the north part of Bekaa Valley, with her husband and only daughter. Unable to afford their own home, they have to share one room in the house of her in-laws. For this 58-year-old Lebanese woman, who suffers from severe complications due to diabetes, making it through each day has become a real challenge. “We have always been poor, but at least before we were able to cope. Two months ago, my husband lost his job," says Fatima. She used to work as a cleaner but she can’t work anymore because she was diagnosed with diabetes five years ago and since then her health has got a lot worse. She has lost sight in both eyes and developed a serious foot injury that prevents her from walking. "We eat mostly lentils, bulgur wheat and potatoes; a lot of potatoes. It’s not a very good diet for my diabetes, but that’s all we can afford. I can’t think of anything comforting. The economic crisis has been the final straw. All I want is to be able to live decently,” she says.
Fatima
Karine Pierre/Hans Lucas for MSF Instagram: @pics_stone
Fatima lives in Hermel, in the north part of Bekaa Valley, with her husband and only daughter. Unable to afford their own home, they have to share one room in the house of her in-laws. For this 58-year-old Lebanese woman, who suffers from severe complications due to diabetes, making it through each day has become a real challenge. “We have always been poor, but at least before we were able to cope. Two months ago, my husband lost his job," says Fatima. She used to work as a cleaner but she can’t work anymore because she was diagnosed with diabetes five years ago and since then her health has got a lot worse. She has lost sight in both eyes and developed a serious foot injury that prevents her from walking. "We eat mostly lentils, bulgur wheat and potatoes; a lot of potatoes. It’s not a very good diet for my diabetes, but that’s all we can afford. I can’t think of anything comforting. The economic crisis has been the final straw. All I want is to be able to live decently,” she says.
MSF's clinic in Arsal
Karine Pierre/Hans Lucas for MSF Instagram: @pics_stone
In the street in front of the MSF's clinic in Arsal, a staff speaks with two patients. MSF has been providing free primary healthcare to vulnerable communities in Arsal, in the north of Bekaa Valley, since 2012. MSF’s clinic in Arsal offers medical care for patients with non-communicable chronic diseases (NCD), acute paediatric consultations, sexual and reproductive health services and mental health support.