Ukraine: Alarmierende humanitäre Situation durch anhaltenden Konflikt

04.09.2014
Das Gesundheitssystem in einem Großteil der östlichen Ukraine droht unter dem Druck des Konfliktes zu zerbrechen.
Der Konflikt im Osten der Ukraine trifft nich nur militärische Ziele, sondern auch Krankenhäuser und Wohnhäuser.
Anastasia Taylor-Lind
Donezk, Ukraine, 16.08.2014: Der Konflikt im Osten der Ukraine trifft nich nur militärische Ziele, sondern auch Krankenhäuser und Wohnhäuser. Dieser Apartement-Block im Verwaltungsbezirk Donezk wurde von einem Bombeneinschlag getroffen.

Im Osten der Ukraine entwickelt sich durch den seit Monaten anhaltenden Konflikt eine alarmierende humanitäre Situation. Krankenhäuser wurden bombardiert, Zehntausende Menschen aus ihren Häusern vertrieben, Tausende Menschen verloren ihr Leben. „Das Gesundheitssystem in einem Großteil der östlichen Ukraine droht unter dem Druck des Konfliktes zu zerbrechen", sagt Stephanie Prevost, Landeskoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Kiew.

„Das medizinische Material wird immer knapper bei so vielen Kriegsverletzten und Vertriebenen, die zu behandeln sind", berichtet Prevost. Auch in den Nachbarregionen außerhalb der Kampfzonen seien Krankenhäuser bereits am Limit des Leistbaren: „Viele Kliniken haben ihre Budgets und Vorräte für 2014 bereits verbraucht."

Medizinisches Material geliefert

Ärzte ohne Grenzen reagierte auf diese Versorgungsengpässe und hat seit Mitte Mai 2014 Material zur Versorgung von mehr als 6.200 kriegsverletzten PatientInnen an Krankenhäuser in Donezk und Luhansk geliefert. Mehr als 1.800 Hygiene-Kits, die unter anderem Seife, Zahnbürsten und Handtücher enthalten, wurden an die vertriebenen Menschen in Dnipropetrowsk und in der Region um Donezk verteilt. Auch wenn es aufgrund der unsicheren Lage und anhaltenden Bombardierungen schwer bleibt, die am stärksten betroffenen Gegenden zu erreichen, wird Ärzte ohne Grenzen weiterhin auf allen Seiten des Konfliktes helfen und medizinisches Material und Medikamente liefern – orientiert allein am Bedarf der Notleidenden.

„Zusätzlich zu den hohen PatientInnenzahlen und dem Mangel an Material wurden Krankenhäuser in der Konfliktzone nicht verschont, sondern im Gegenteil durch Bombardements beschädigt und zerstört", sagt Prevost. „Die Menschen sind von medizinischer Hilfe abgeschnitten, gerade jetzt, wo sie diese am nötigsten brauchen, und das ist einfach inakzeptabel." Mindestens elf Krankenhäuser wurden allein in Donezk von Bombeneinschlägen getroffen, drei von ihnen mussten komplett geschlossen werden. Dies zeigt deutlich einen mangelnden Respekt vor medizinischen Einrichtungen und für jene, die trotz großer Risiken weiterhin Nothilfe leisten.

Angststörungen und Albträume

Auch die emotionalen Folgen der schweren Kämpfe sind gravierend. Die Menschen in der östlichen Ukraine sind traumatischen Ereignissen ausgesetzt – Bombenangriffe, Schusswechsel und Flucht aus ihren Häusern. Ärzte ohne Grenzen leistet auch psychologische Hilfe, um die Betroffenen in Slowjansk, Swjatohirsk und Krasnyj Lyman zu unterstützen. Mehr als 500 Vertriebene erhielten im August Hilfe durch individuelle Beratungen oder Gruppengespräche. Ärzte ohne Grenzen plant den Ausbau dieser Aktivitäten an mehreren Orten.

„Die Menschen leiden durch den Konflikt unter einem akuten Gefühl des Verlustes ihres vertrauten Lebens, ihres Eigentums und sozialer und familiärer Netzwerke", sagt Manuel Morantes, psychosozialer Berater von Ärzte ohne Grenzen in Kiew. „Unsere Teams leisten emotionale Unterstützung und geben praktische Hilfe für die Menschen, die unter Angststörungen, Schlaflosigkeit und Albträumen leiden."

Tuberkulose-PatientInnen drohen Resistenzen

In der Region Donezk betreibt Ärzte ohne Grenzen seit 2011 ein Tuberkulose-Programm in einem Gefängnis. Auch dieses Projekt ist von der schwierigen Lage betroffen: Die Labore zur Diagnose von Tuberkulose und HIV in Donezk und Luhansk haben große Schwierigkeiten, ihre Aktivitäten aufrecht zu erhalten und können oft sogar gar keine Unterstützung für das Projekt leisten.

Viele PatientInnen, die auf eine Tuberkulose- oder HIV-Therapie angewiesen sind, sehen sich wachsenden Problemen gegenüber: Sie können die Gesundheitseinrichtungen in den unsicheren Gebieten nur schwer erreichen, Medikamente sind kaum zugänglich – sie riskieren somit Behandlungsunterbrechungen, -misserfolg und Resistenzbildung. „Unsere Teams in der Ukraine tun ihr Möglichstes, um auf die medizinischen und humanitären Nöte zu reagieren", sagt Prevost. „Wir befürchten, dass die Lage noch schlechter wird, wenn der Winter kommt."