Warum sich Ärzte ohne Grenzen aus Somalia zurückzieht

23.08.2013
"Kommentar der Anderen" von Dr. Unni Karunakara, internationaler Präsident von Ärzte ohne Grenzen
MSF140500 Unni Karunakara web
Yann Libessart/MSF
Nairobi, Kenia, 14.08.2013: Dr. Unni Karunakara, Präsident von Ärzte ohne Grenzen International, bei der Pressekonferenz in Nairobi.

"Eine folgenschwere Entscheidung": D r. Unni Karunakara, internationaler Präsident von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF)

Als wir am 14. August verlautbarten, Ärzte ohne Grenzen würde alle medizinischen Hilfsprogramme in Somalia schließen , hat dies Schockwellen durch politische und humanitäre Kreise geschickt. Unsere Ankündigung kommt zu einer Zeit, in der führende Regierungschefs erstmals seit Jahrzehnten positive Signale aussenden und über Somalia als Land auf dem Weg der Erholung, mit stabiler Regierung sprechen. Aus ihrer Sicht hätte der Zeitpunkt für unsere Entscheidung schlechter nicht sein können. In Interviews werden wir seither gefragt, wie sich die Diskrepanz zwischen diesem zuversichtlichen Ton der Regierungen und unserem eigenen harschen Urteil erklärt, ein Urteil, das uns zu einer der schwierigsten Entscheidungen in der Geschichte von Ärzte ohne Grenzen veranlasst hat.

Lassen Sie mich versuchen, zu erklären: Zunächst ist Ärzte ohne Grenzen keine Organisation, die politischen oder wirtschaftlichen Fortschritt kommentiert. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf die Gesundheit der Menschen und ihre Möglichkeiten medizinische Hilfe zu finden, wenn sie diese brauchen. Aus dieser Perspektive, die in unseren weitreichenden Aktivitäten in vielen Teilen Somalias begründet ist, haben wir schlicht keine gute Nachricht zu vermelden. Große Teile der somalischen Bevölkerung leben mit Unterernährung, Krankheiten und Verletzungen. Sie haben wenig Chance auf eine qualitative Gesundheitsversorgung. Wir haben uns bemüht, medizinische Versorgung in fast allen Teilen des Landes anzubieten, aber das ging nicht ohne Kompromisse. So heuerten wir bewaffnete Wächter an, um unsere Mitarbeiter und unsere Kliniken zu schützen – etwas, das wir in keinem anderen Konfliktgebiet tun.

Trotz dieser extremen Maßnahme, waren wir mit einer Welle von Angriffen konfrontiert, darunter Entführungen und die Ermordung von 16 (!) unserer Mitarbeiter. Es gab zudem eine unerträgliche Zahl von Drohungen, Diebstählen und anderer einschüchternder Ereignisse. Es gibt kein anderes Land der Welt, in dem die Sicherheitsrisiken so hoch sind. Die vielen Kommentatoren auf Twitter, die angemerkt haben, dass Ärzte ohne Grenzen dafür bekannt ist, unter den schwierigsten Umständen zu bleiben und zu arbeiten, haben Recht. Aber Ärzte ohne Grenzen hat auch seine Limitierungen. Und in Somalia haben wir mit einer Reihe von Ermordungen und Entführungen im Laufe der vergangenen fünf Jahre unser Limit erreicht. Im Dezember 2011 wurden zwei Kollegen in Mogadischu brutal ermordet. Ihr Mörder, der angeklagt, vor Gericht gestellt und zu 30 Jahren Haft verurteilt worden war, wurde nach drei Monaten aus dem Gefängnis entlassen. Zwei andere Kolleginnen, die zwei Monate davor – im Oktober 2011 – aus dem Flüchtlingslager im kenianischen Dabaab entführt worden waren, sind erst vor wenigen Wochen frei gekommen. Sie waren 21 lange Monate in Süd-Zentral Somalia gefangen. Diese beiden Ereignisse haben letztlich den Ausschlag gegeben.

Wie haben das Land aber nicht aufgrund von Sicherheitsrisiken und krimineller Ereignisse verlassen. Unser letzter Funke Hoffnung auf einen Verbleib im Land wurde zerstört, weil dieselben Parteien, mit denen wir ein Mindestmaß an Sicherheitsgarantien ausverhandelt hatten, Angriffe gegen humanitäre Helfer toleriert haben. In manchen Fällen haben sie kriminelle Übergriffe gegen unsere Mitarbeiter sogar aktiv unterstützt. In vielen anderen Fällen haben diese Parteien ein Klima geschürt, das Angriffe ermöglicht hat. Niemand hat sich gewehrt und gesagt, dass es inakzeptabel ist, Ärzte, Krankenschwestern und andere Mitarbeiter, die schlicht und nur versuchen, jene Menschen medizinisch zu versorgen, die sonst keine Versorgung hätten, zu bedrohen, zu entführen oder umzubringen.

Und eines sei klargestellt: Mit „Parteien in Somalia" meinen wir nicht nur die Al-Shabab, obwohl sie in vielen Regionen, in denen wir gearbeitet haben, über große Macht verfügt. Wir prangern auch nicht nur die Regierung in Mogadischu an, die auf die Ermordung unserer zwei Kollegen im Jahr 2011 mit Gleichgültigkeit reagiert hat, wie die frühzeitige Freilassung des Mörders zeigt. Vielmehr haben wir den Schluss gezogen, dass Gewalt gegen Gesundheitspersonal in der somalischen Gesellschaft mittlerweile weitgehend akzeptiert wird. Diese Akzeptanz wird nun auch von vielen bewaffneten Gruppen und vielen Ebenen der zivilen Regierung, von den Clan-Ältesten, über Regionalvertreter bis hin zur Somalischen Regierung, geteilt.

Die große Bereitschaft, humanitäre Hilfe zu missbrauchen und zu manipulieren wurde uns auch sofort nach der Verkündigung unseres Rückzugs aus Somalia wieder vor Augen geführt: Innerhalb eines Tages haben lokale Al-Shabab-Vertreter unsere Krankenhäuser in Dinsor und Marere unter ihre Kontrolle gebracht, Ausrüstungen und Material konfisziert und Patienten nach Hause geschickt, deren Behandlung nun nicht zu Ende geführt werden kann. Innerhalb eines Tages kam auch ein Kommentar des Sprechers der somalischen Präsidentschaft: „Die Entscheidung von Ärzte ohne Grenzen ist genau das, was Al-Shabab und Al-Kaida wollten, die nun die Menschen weiter terrorisieren können. Wir fordern Ärzte ohne Grenzen auf, die Entscheidung zu überdenken und mit den Menschen zusammenzuarbeiten." Damit wurde einmal mehr versucht, uns – einer humanitären Organisation – eine politische und militärische Agenda aufzuzwingen.

Somalia zu verlassen, ist eine der schmerzhaftesten Entscheidungen in der Geschichte von Ärzte ohne Grenzen . Im Laufe des vergangenen Jahres und in der ersten Hälfte 2013 haben wir rund 50.000 Menschen pro Monat behandelt. Das sind beinahe 2.000 Menschen pro Tag. Viele von ihnen werden ab nun große Schwierigkeiten haben, die Behandlung zu bekommen, die sie brauchen. Für eine Organisation von Ärzten und Ärztinnen ist das eine schwere Verantwortung.In Kenia und Äthiopien, wo für Hunderttausende somalische Flüchtlinge nun die Möglichkeit auf eine baldige Rückkehr in ihr Land weiter gesunken ist, setzt Ärzte ohne Grenzen die medizinische Betreuung für Menschen aus Somalia fort, aber unter Sicherheitsbedingungen, die – sowohl für unsere Patienten als auch unsere Mitarbeiter - kaum besser als in Somalia selbst sind.

Solange jene, die in Somalia Macht oder Einfluss haben, nicht klar unter Beweis stellen, dass sie medizinische Behandlung für Menschen in verschiedenen Teilen ihres Landes wertschätzen, solange sie nicht jene Menschen respektieren, die enorme persönliche Risiken eingehen, um eine solche Behandlung zu ermöglichen, solange kann Ärzte ohne Grenzen nicht in das Land zurückkehren.

Das "Kommentar der Anderen", erschienen am 22.08.2013 in der Tageszeitung "Der Standard" und auf derstandard.at , wurde erstmals publiziert am 20.08.2013 in der kenianischen Tageszeitung "The Standard" und auf standardmedia.co.ke .