Lesbos: 940 Schutzsuchende seit Juni 2022 verschwunden – Situation in den Lagern katastrophal

25.05.2023
Seit die Teams im Juni 2022 mit der medizinischen Versorgung von neu ankommenden Schutzsuchenden auf Lesbos begonnen haben, sind 940 Menschen verschwunden. Ärzte ohne Grenzen ist zutiefst besorgt über die zahlreichen Berichte über Entführungen und Pushbacks.

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Seit die Teams von Ärzte ohne Grenzen im Juni 2022 mit der medizinischen Versorgung von neu ankommenden Schutzsuchenden auf Lesbos begonnen haben, sind 940 Menschen verschwunden. In den zwei Lagern auf der griechischen Insel, Mavrovouni und Megala Therma, beobachtet die medizinische Nothilfeorganisation eine Abschreckungspolitik und Verschlechterung der Situation von Geflüchteten, Asylwerber:innen und Migrant:innen. Ärzte ohne Grenzen ist zutiefst besorgt über die zahlreichen Berichte über Gewalterfahrungen wie Entführungen und Pushbacks, Inhaftierungen und Entzug von Nahrung und Unterkunft.

Die Teams von Ärzte ohne Grenzen, die auf Lesbos arbeiten, werden vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR und anderen alarmiert, wenn Schutzsuchende auf Lesbos ankommen und dringend medizinische Behandlung benötigen. „Seit Ärzte ohne Grenzen im Juni 2022 damit begonnen hat, Menschen, die mit dem Boot auf Lesbos ankommen, medizinische Nothilfe zu leisten, konnten wir etwa 940 Menschen nicht auffinden“, sagt Nihal Osman, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos.

Mehrere Patient:innen berichten, dass sie bei früheren Versuchen, Griechenland zu erreichen, gewaltsam abgefangen und aufs Meer zurückgedrängt worden sind. „Wenn wir alarmiert werden, dass Menschen neu ankommen, die dringend medizinische Hilfe benötigen, verbringen wir oft Stunden, manchmal Tage, damit, nach ihnen zu suchen, da sie sich oft in Wäldern verstecken", beschreibt Nihal Osman. „Menschen, die wir finden, haben uns von der Begegnung mit maskierten Männern erzählt, die sich als Ärzte ausgaben, um ihr Vertrauen zu gewinnen, oder, wie kürzlich in der New York Times berichtet wurde, sogar als Ärzte ohne Grenzen. Wenn sich dies bestätigt, ist das eine inakzeptable und schwerwiegende Manipulation humanitärer Hilfe.“ In einigen Fällen haben Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen in der Umgebung der Einsatzorte nicht identifizierbare Fahrzeuge ohne Kennzeichen gesehen, die oft von vermummten Personen gefahren wurden.

Grausame Abschreckungstaktik im größten Lager Griechenlands

Schutzsuchende, die auf Lesbos ankommen, werden je nach Ankunftsort in zwei Zentren geschickt: Mavrovouni und Megala Therma. In Mavrovouni, einem der von der EU finanzierten „Closed Controlled Access Centers“ (CCAC), wurden 2023 rund 2.700 Menschen untergebracht. CCACs wurden als Verbesserung der Lebensbedingungen von Schutzsuchenden vermarktet, schränken aber die Bewegungsfreiheit der Menschen stark ein und sind gefängnisähnliche Einrichtungen.

Am 17. Mai stellten die griechischen Behörden die Bereitstellung von Lebensmitteln für anerkannte Flüchtlinge und Menschen, denen internationaler Schutz verweigert wird, ein und kündigten Pläne an, sie von dort zu vertreiben. „Die Patient:innen klagen über Demütigungen, die sie erleiden, wenn sie stundenlang in der Schlange stehen, und über die Frustration darüber, weniger zu essen zu bekommen. Das Ministerium setzt eine Reduktion der Lebensmittel als Druckmittel ein, um die Menschen zu zwingen, die Einrichtung zu verlassen“, so Osman. Außerdem werden Kindern von Familien, denen internationaler Schutz verweigert wurde, ihre Sozialversicherungsnummern entzogen, wodurch sie keinen Anspruch auf Grundimpfungen haben.

Auch in Megala Therma sind die Lebensbedingungen katastrophal. Die Menschen werden in überfüllten Flüchtlingsunterkünften untergebracht, die keine Betten haben – manchmal werden 14 Personen in eine Einheit mit einer Kapazität für fünf Personen gequetscht. „Alle – auch Kinder – werden zusammen untergebracht, unabhängig von ihrer Verletzlichkeit, ohne Rücksicht auf ihre Sicherheit“, erklärt Osman. Ärzte ohne Grenzen leistet hier seit 2020 medizinische Versorgung. Die Einrichtung, die früher ein staatliches COVID-19-Quarantänezentrum war, beherbergt nun Schutzsuchende, bevor sie nach Mavrovouni verlegt werden.

Die Menschen in Megala Therma sind nicht registriert und werden willkürlich tagelang, in einigen Fällen für mehr als zwei Wochen, festgehalten, bevor sie nach Mavrovouni überstellt werden.

Megala Therma ist sehr isoliert, was es medizinischen Organisationen erheblich erschwert, die Einrichtung zu erreichen, um auf Notfälle zu reagieren. „Ärzte ohne Grenzen kommt zweimal pro Woche, aber wenn medizinische Notfälle an einem anderen Tag auftreten, ist niemand vor Ort, um diese zu versorgen. Ein Krankenwagen würde mehr als eine Stunde brauchen, um die Patient:innen zu erreichen", sagte Osman. „Das Camp Megala Therma ist ein Sinnbild für den grausamen und dysfunktionalen Ansatz, der in diesen Zentren verfolgt wird, die von den EU-Mitgliedstaaten unterstützt und von der Europäischen Kommission finanziert werden. Ärzte ohne Grenzen hat diese harte Politik bereits ausgiebig kritisiert und angeprangert.“

Ärzte ohne Grenzen fordert Konsequenzen

Ärzte ohne Grenzen fordert die griechischen Behörden auf, den Berichten über Hunderte von vermissten Personen nachzugehen, von denen angenommen wird, dass sie gewaltsam aufs Meer zurückgedrängt wurden. Außerdem wird gefordert, sichere und würdige Aufnahmebedingungen für diejenigen zu schaffen, die auf der Insel sind.

Ärzte ohne Grenzen appelliert an die griechischen Behörden und die Europäische Kommission:

  • Eine sofortige Untersuchung der Behauptungen einzuleiten, dass Menschen von nicht identifizierten maskierten Personen bedroht, entführt und misshandelt werden, die sich systematisch an Pushbacks beteiligen und Menschenleben an Land und auf See gefährden.
  • Die willkürliche Inhaftierung von nicht registrierten Neuankömmlingen in Megala Therma zu beenden und ihren unverzüglichen Zugang zu Registrierung, würdige Aufnahmebedingungen und die Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen zu gewährleisten.
  • Eine qualitative hochwertige, zeitnahe medizinische Versorgung zu gewährleisten, einschließlich medizinischer Notfallversorgung in den Aufnahmezentren. Der rechtliche Status von Menschen darf nicht dazu führen, dass diese von lebenswichtigen Dienstleistungen wie der Versorgung mit Nahrung und Unterkunft oder medizinischer Versorgung ausgeschlossen werden. Im Einklang mit der EU-Aufnahmerichtlinie muss allen Neuankömmlingen, die in Griechenland Schutz suchen, Zugang zu Gesundheitsversorgung, Schutz und humanitärer Hilfe gewährt werden.
Eva Hosp, Media und Events

Eva Hosp

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