Tausende Migrant:innen nach fünftägigen Massenverhaftungen in Tripolis interniert

06.10.2021
In den letzten drei Tagen wurden mindestens 5.000 Migrant:innen und Geflüchtete in der libyschen Haupstadt Tripolis festgenommen und waren dabei massiver Gewalt ausgesetzt.

Die Zahl der Migrant:innen und Geflüchteten, die in der libyschen Stadt Tripolis in Internierungslagern festgehalten werden, ist in den letzten fünf Tagen dramatisch angestiegen. Das berichten Teams der internationalen Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die in drei Internierungslagern der Stadt medizinische Versorgung anbieten. Ärzte ohne Grenzen ist zutiefst beunruhigt über diesen dreifachen Anstieg, der das direkte Ergebnis von fünf Tagen willkürlicher Massenverhaftungen von Migrant:innen und Geflüchteten – einschließlich Frauen und Kindern – ist, die seit dem 1. Oktober in der Stadt durchgeführt wurden.

In den letzten drei Tagen wurden mindestens 5.000 Migrant:innen und Geflüchtete in Tripolis von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Im Rahmen der Razzien in ihren Häusern waren viele der Festgenommenen Berichten zufolge schwerer körperlicher Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, ausgesetzt. Nach Angaben der UNO wurde ein junger Migrant getötet, mindestens fünf weitere erlitten Schussverletzungen.

„Wir beobachten, dass Sicherheitskräfte zu extremen Maßnahmen greifen, um noch mehr verletzliche Menschen willkürlich unter unmenschlichen Bedingungen in stark überfüllten Lagern festzuhalten", sagt Ellen van der Velden, Leiterin der Einsätze in Libyen von Ärzte ohne Grenzen. „Ganze Familien von Migrant:innen und Geflüchteten, die in Tripolis leben, wurden gefangen genommen und mit Handschellen in verschiedene Internierungslager gebracht. Dabei wurden Menschen verletzt und sogar getötet, Familien wurden getrennt und ihre Häuser in Schutt und Asche gelegt."

Aufgrund der schwierigen Sicherheitslage, die durch die anhaltenden Razzien verursacht wurde, konnten die Teams von Ärzte ohne Grenzen ihre wöchentlichen mobilen Kliniken in der Stadt für hilfsbedürftige Migrant:innen und Geflüchtete nicht durchführen.

„Bewaffnete und maskierte Sicherheitskräfte stürmten unser Haus, in dem ich mit drei anderen Personen lebte", erklärt Abdo . „Sie fesselten uns die Hände auf dem Rücken und zerrten uns aus dem Haus. Wir flehten sie an, uns Zeit zu geben, um unsere Habseligkeiten und wichtige Papiere einzupacken, aber sie hörten nicht auf uns. Dabei wurden wir geschlagen. Einigen wurde auf die Beine geschlagen und erlitten Knochenbrüche. Mir schlugen sie mit dem Gewehrkolben auf den Kopf, ich habe schwere Verletzungen. Später musste der Arzt die Wunde nähen. Die maskierten Männer brachten uns in Fahrzeuge, dann fanden wir uns im Internierungslager Ghout Sha'al wieder. Ich war vier Tage dort und machte eine sehr schwierige Zeit durch, in der ich sah, wie hilflose Menschen mit Waffen geschlagen wurden. Am vierten Tag gelang mir die Flucht."

Überfüllte Zellen, kein Schutz

Die Menschen, die in den von der Regierung geführten Internierungslagern festgehalten werden, hausen in überfüllten Zellen mit schlechten Hygienebedingungen, kaum sauberem Wasser oder Nahrungsmitteln. Nach den jüngsten Verhaftungen ist der medizinische Bedarf vermutlich weiter gestiegen. In den letzten zwei Tagen hat Ärzte ohne Grenzen Zugang zu den zwei Haftanstalten Shara Zawiya und Al-Mabani, auch bekannt als Ghout Sha’al, bekommen, wo die im Zuge der Razzien festgenommenen Menschen gebracht wurden. Die Teams konnten in dem kurzen Zeitfenster, in dem sie Zugang zu den Internierungslagern hatten, 161 Patient:innen behandeln und 21 in andere von Ärzte ohne Grenzen unterstütze Kliniken in Tripolis überweisen.

In Shara Zawiya wo bislang rund 200-250 Menschen festgehalten wurden, hat das Team von Ärzte ohne Grenzen nun rund 550 dokumentiert, Frauen und Kinder die in Zellen gepfercht sind, darunter schwangere Frauen und neugeborene Babys. Rund 120 Menschen müssen sich eine Toilette teilen, Kübel, die mit Urin gefüllt sind, stehen aufgereiht in der Nähe der Zellentüren. Während einer Lebensmittelverteilung brach ein Tumult aus, als die Frauen gegen die schlechten Bedingungen protestierten.

Im Internierungslager Al-Mabani hat Ärzte ohne Grenzen beobachtet, dass die Zellen so überfüllt waren, dass die Männer darin nur mehr stehen konnten. Außerhalb der Zellen werden hunderte Frauen und Kinder im Freien festgehalten. Es gibt keinen Schutz. Die Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen sprachen mit Männern die angaben, seit drei Tagen nichts zu essen bekommen zu haben während die Frauen berichteten, dass sie nur ein Stück Brot mit Käse pro Tag erhalten. Ärzte ohne Grenzen hat mehrere bewusstlose Männer vorgefunden, die dringend medizinische Versorgung brauchen.

Schließung der Internierungslager gefordert

Ärzte ohne Grenzen hat erst kürzlich die medizinischen Aktivitäten in den Internierungslagern Shara Zawiya, Al-Mabani und Abu Salim wieder aufgenommen, nachdem diese aufgrund der massiven Gewalt und besorgniserregender Vorkommnisse im Juni ausgesetzt werden musste. Die Behörden, die die Lager führen, hatten die Einhaltung bestimmter Grundvoraussetzungen zugesagt. Nun ist klar, dass die Vereinbarung gebrochen wurde.

„Statt immer mehr Menschen einzusperren sollten die willkürliche Inhaftierung von Migrant:innen und Geflüchteten unter diesen unmenschlichen und gefährlichen Bedingungen beendet werden“, so Van der Velden.

Ärzte ohne Grenzen fordert die Schließung der Internierungslager, die Freilassung aller dort festgehaltenen Menschen und die Bereitstellung von angemessener humanitärer Hilfe und Schutz nach ihrer Freilassung.