13.06.2025
In diesem Jahr hat die Zahl der Überlebenden sexualisierter Gewalt, die von Ärzte ohne Grenzen im Osten der Demokratischen Republik Kongo versorgt werden, erneut ein alarmierendes Ausmaß erreicht. Die medizinische Hilfsorganisation fordert die internationale Gemeinschaft auf, die Versorgung der Betroffenen trotz der aktuellen finanziellen Herausforderungen weiterhin zu priorisieren.

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Seit Jahren macht Ärzte ohne Grenzen auf das erschreckende Ausmaß sexualisierter Gewalt im Osten der DR Kongo aufmerksam. Die Zahl der versorgten Überlebenden ist in den letzten drei Jahren dramatisch angestiegen – insbesondere seit der Wiederaufnahme der Kämpfe zwischen der kongolesischen Armee und der bewaffneten Gruppe M23/AFC sowie ihren jeweiligen Verbündeten. Besonders betroffen ist die Provinz Nord-Kivu, wo Ärzte ohne Grenzen im Jahr 2024 eine enorm hohe Zahl von fast 40.000 Überlebenden medizinisch betreut hat. Seit Anfang dieses Jahres verzeichnen die von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Einrichtungen in Nord- und Süd-Kivu alarmierend hohe Zahlen an Behandlungen. Nach der Einnahme der Stadt Goma im Februar wurden Lager für Binnenvertriebene – in denen über 650.000 Menschen lebten – durch die Miliz M23/AFC aufgelöst. Zahlreiche vertriebene Frauen konnten oder wollten nicht in ihre Heimatdörfer zurückkehren. Viele sind mit ihren Kindern auf sich allein gestellt. „Zu uns kommen zahlreiche Patientinnen, die in oder rund um Gastfamilien oder in gemeinschaftlichen Unterkünften Opfer von Übergriffen wurden“, sagt Calas. „Häufig werden sie zu sexuellen Handlungen im Tausch gegen Wohnmöglichkeiten gezwungen. Ganz gleich, wo sie sind – sie sind nirgendwo sicher. In manchen Vierteln ereignen sich diese Übergriffe sogar tagsüber.“ Im Umland von Goma und Saké berichten viele Überlebende von Übergriffen auf Straßen oder auf Feldern.

Wie schon in den Vorjahren wurde der Großteil der gemeldeten Übergriffe im Jahr 2025 unter Androhung von Waffengewalt verübt. Die Vielzahl bewaffneter Akteure – sowohl Zivilpersonen als auch Militärs – und die anhaltende Unsicherheit erschweren die Identifikation der Täter erheblich. 

Die Teams von Ärzte ohne Grenzen versorgen täglich Dutzende Überlebende sexualisierter Gewalt in Gesundheitseinrichtungen in und um Goma. Zwischen Jänner und April 2025 wurden dort fast 7.400 Betroffene betreut. In der etwa 20 Kilometer westlich gelegenen Ortschaft Saké wurden im selben Zeitraum über 2.400 weitere Überlebende behandelt. Auch in Süd-Kivu ist die Lage besorgniserregend. In Kalehe und Uvira haben Teams von Ärzte ohne Grenzen seit Anfang 2025 rund 700 Opfer sexualisierter Gewalt behandelt. 

„Die Zahlen bilden die Realität nur unzureichend ab“, betont Luders Leriche, medizinischer Koordinator von Ärzte ohne Grenzen in Süd-Kivu. „Viele Überlebende haben keinen Zugang zu Versorgung – aus Angst vor Vergeltung, wegen gesellschaftlicher Stigmatisierung, geografischer Abgeschiedenheit oder fehlender Kapazitäten in den Einrichtungen.“ Die hohe Zahl der Fälle in manchen Gegenden – im Vergleich zur geringen Zahl in anderen – spiegelt eher die ungleichen Versorgungsmöglichkeiten als das tatsächliche Ausmaß des Problems wider.

Überlebende berichten: Vergewaltigungen sogar vor den eigenen Kindern und am Weg zu Gesundheitseinrichtungen

Nasha*, eine vertriebene Frau, die in einem Schulhof ein Notquartier errichtet hat, berichtet: „Gegen 22:30 Uhr drangen bewaffnete Männer in unser Haus ein. Einige Ehemänner wurden getötet, Frauen wurden vergewaltigt – auch ich. Drei Männer wollten mich vor meinem Mann und unseren acht Kindern vergewaltigen. Mein Mann wehrte sich – sie töteten ihn.“

„Sie sagten mir, ich solle mich entweder ihnen hingeben oder sie würden mich töten“, erzählt Rika*, eine Bewohnerin eines Dorfes rund 40 Kilometer westlich von Goma. „Dann haben sie mich vergewaltigt – einer nach dem anderen.“

„Wir haben in den Feldern Zuflucht gesucht – dort haben wir sehr gelitten“, berichtet eine Bewohnerin der Gegend um Kamanyola (Süd-Kivu). „Bewaffnete Männer hinderten uns daran, die Dörfer zu durchqueren. Einige Frauen wurden auch vergewaltigt, als sie versuchten, eine Gesundheitseinrichtung zu erreichen.“

Schwerwiegende psychische, körperliche und soziale Folgen

Die Folgen sexualisierter Gewalt sind seit langem bekannt und dokumentiert. Auch wenn Männer deutlich seltener betroffen sind, bleibt ihre Situation ebenfalls besorgniserregend. Neben den physischen und psychischen Schäden haben diese Taten schwerwiegende soziale Konsequenzen: familiäre Ausgrenzung, Scheidung, Stigmatisierung, Suizidgedanken und die große Schwierigkeit für Überlebende, an Orten weiterzuleben, an denen sie missbraucht wurden.

Zugang zu Versorgung wird immer schwieriger

Besorgniserregend ist auch, dass der Zugang zu medizinischer Hilfe zunehmend erschwert wird. Mehrere Gesundheitseinrichtungen in Nord- und Süd-Kivu verfügen bereits nicht mehr über Medikamente und Versorgungskits für Überlebende sexualisierter Gewalt.

„Neben den unterbrochenen Versorgungs- und Lieferketten infolge des anhaltenden Konflikts sind es vor allem die weltweiten Kürzungen von Finanzmitteln für humanitäre Hilfe, die Anlass zu großer Sorge geben“, warnt François Calas. „Trotz aller gegenwärtigen Herausforderungen dürfen diese Frauen und Kinder nicht im Stich gelassen werden. Ihre Versorgung muss absolute Priorität haben.“

In Nord-Kivu und Süd-Kivu bieten die Teams von Ärzte ohne Grenzen umfassende medizinische und psychologische Betreuung für Betroffene sexualisierter Gewalt an. Die Behandlung umfasst physische und psychologische Versorgung, präventive Therapien gegen sexuell übertragbare Krankheiten, Notfallverhütung, Impfungen und sichere Schwangerschaftsabbrüche. Schwere Fälle werden in spezialisierte Kliniken überwiesen. 

Neben dem Aufruf, die Versorgung der Betroffenen sicherzustellen, fordert Ärzte ohne Grenzen die Konfliktparteien auf, den Schutz der Zivilbevölkerung insgesamt zu verbessern und den Zugang zu medizinischer Hilfe sicherzustellen.

*Vornamen geändert zum Schutz der Patientinnen.

Werner Reiter | Ärzte ohne Grenzen

Werner Reiter

Press Officer