COVID-19: Ärzte ohne Grenzen kritisiert Impfnationalismus

Ärzte ohne Grenzen fordert eindringlich, dass die neuen COVID-19-Impfstoffe allen Menschen zur Verfügung stehen, nicht nur Bürgerinnen und Bürgern in reicheren Ländern. Hier trägt auch Österreich eine wichtige Verantwortung.
14.01.2021
Khayelitsha Field Hospital Activity
MSF/Rowan Pybus (@Makhulu_)
Helping her to breathe. 40% of people admitted to the Khayelitsha Field Hospital required oxygen therapy.

Die internationale medizinische Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) fordert eindringlich, dass die neuen COVID-19-Impfstoffe allen Menschen zur Verfügung stehen, nicht nur Bürgerinnen und Bürgern in reicheren Ländern. Hier trägt auch Österreich eine wichtige Verantwortung, sich über seine Grenzen hinaus für eine gerechte Impfstoff-Verteilung einzusetzen. „Durch den Mangel an Solidarität droht eine Verlängerung der Pandemie“, warnt die Organisation.

„Eine Pandemie ist erst dann beendet, wenn sie überall auf der Welt beendet ist“, betont Marcus Bachmann, humanitärer Berater von Ärzte ohne Grenzen. „Wir befürchten eine unnötige Verlängerung der Corona-Pandemie, da die einkommensschwächsten Länder des globalen Südens keinen Zugang zu ausreichend Impfstoffen haben. Aus heutiger Sicht kann nur ein verschwindender Teil der Menschen im globalen Süden 2021 geimpft werden, Schuld daran ist die gravierende Ungleichheit bei der Beschaffung von Impfstoffen.“ 

Reiche Industrienationen reklamieren einen Großteil der Impfstoff-Vorräte für sich. Mehr als 50 Prozent der Impfstoffe, die 2021 produziert werden, sind für den globalen Norden reserviert. Und dieses Ungleichgewicht erhöht sich sogar noch durch weitere Lieferverträge, die laufend abgeschlossen werden. Dabei sehen die Teams von Ärzte ohne Grenzen in ihrer Arbeit, dass das Coronavirus gerade in ärmeren Ländern verheerende Konsequenzen hat: Neben den Herausforderungen für die fragilen Gesundheitssysteme bedeuten Lockdowns für viele Menschen, nicht arbeiten gehen zu können. Kein Einkommen bedeutet kein Essen. Wichtige Impfkampagnen für Kleinkinder, wie gegen Masern oder Polio, können nicht organisiert werden. Diagnosen und Behandlungen schwerer Krankheiten, wie Tuberkulose, finden nur eingeschränkt statt. Daraus ergeben sich katastrophale Dominoeffekte, deren Ausmaß noch nicht vollends absehbar sind. 

Kein Impfstoff für die meisten Menschen in vielen Ländern des globalen Südens

„Unser Gesundheitssystem hier in Österreich ist durch die Corona-Pandemie massiven Belastungen ausgesetzt. In meiner täglichen Arbeit mit COVID-Erkrankten sehe ich, welche verheerenden Auswirkungen die Krankheit auf die Betroffenen, aber auch für das Gesundheitspersonal hat. Wenn es hier schon so schwierig ist, lässt sich erahnen, wie es in Ländern wie dem Sudan oder der Elfenbeinküste, wo ich für Ärzte ohne Grenzen tätig war, sein muss“, sagt Stephanie Neuhold, Leiterin der Intensiv- und Überwachungsstation am Wiener Klinik Favoriten (vormals Kaiser-Franz-Josef-Spital,) wo COVID-19-Patientinnen und Patienten behandelt werden. „Wir können langsam ein bisschen aufatmen, seit in Österreich mit dem Impfen begonnen wurde, und zumindest wieder auf ein Leben nach der Pandemie hoffen, aber in vielen Ländern des globalen Südens steht dem Großteil der Menschen kein Impfstoff zur Verfügung und ist somit kein Ende der Krise in Sicht.“

Zwar hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit COVAX eine Initiative zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ins Leben gerufen, diese wird jedoch von mangelnder Solidarität konterkariert. COVAX ist eigentlich für die Verteilung des Impfstoffes in ärmeren Ländern zuständig: Die 98 reicheren Mitgliedsländer sollen die 92 ärmeren finanziell bei der Beschaffung von Impfstoff unterstützen. „Leider klingt das theoretisch zwar sinnvoll, praktisch haben aber die Industrienationen den Markt an verfügbaren Impfstoffen leergekauft“, so Marcus Bachmann. „Für die COVAX-Initiative sieht die Wirklichkeit also grimmig aus. Es mangelt an globaler Solidarität, dabei hat der Impfnationalismus Auswirkungen auf den Rest der Welt: Wir können es uns eigentlich nicht leisten, Impfstoffe nicht mit größter Effizienz weltweit zum Einsatz zu bringen. Das würde zum Verlust von vielen zusätzlichen Menschenleben führen. Es würde auch die Zeit verlängern, bis die Pandemie unter Kontrolle gebracht werden kann, möglicherweise um viele Jahre. Sollte das Virus in einigen ärmeren Ländern überdauern, hätten auch die Industrienationen immer wieder mit Rückläufen von COVID-19 zu kämpfen – und mit neuartigen Mutationen.“

Patente bis zum Ende der Pandemie aussetzen

Ärzte ohne Grenzen fordert, dass zur Bekämpfung des Coronavirus bis zum Ende der Pandemie Rechte zum Schutz des geistigen Eigentums, z.B. Patente, für Medikamente, Impfstoffe und Tests ausgesetzt werden, damit möglichst breitenwirksam global günstige Impfstoffe zur Verfügung gestellt werden können. Auch die österreichische Regierung muss den Zugang zu diesen Instrumenten gegen COVID-19 sicherstellen, indem sie Patente aussetzt oder aufhebt, Preiskontrollen einführt und für Preistransparenz sorgt. Österreich muss sich auch auf EU-Ebene dafür einsetzen, dass Impfstoffe, die mit Milliarden an Steuergeldern gefördert wurden, tatsächlich allen Menschen zur Verfügung stehen und nicht von Pharmaunternehmen zur Gewinnmaximierung missbraucht werden.

Aktuell dürften im Jahr 2021 nur rund 685 Millionen Menschen von den 3,9 Milliarden, die im Globalen Süden leben, geimpft werden. Das ist weit weg von einer Herdenimmunität. Bachmann: „Nationalistische Ansätze für Impfstrategien können nicht erfolgreich sein im Kampf gegen diese Pandemie. Die aktuelle Situation in Österreich ist schwierig – doch jetzt ist der entscheidende Zeitpunkt gekommen global zu denken und zu handeln, um langfristig beste Lösungen zu finden. In der aktuellen Situation ist ‚Österreich impft‘ ein wichtiger erster Schritt, in einer Pandemie bedarf es aber dringend vieler weitere Bausteine, um weltweit eine wirkungsvolle Mauer gegen das Coronavirus zu errichten. Je schneller weltweit so viele Menschen wie möglich geschützt werden, desto besser schützen wir uns alle.“

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