Das weiße Bett

19.02.2020
In Niger führt die Regenzeit jedes Jahr zu einem Anstieg von Unterernährung und Malaria. Die Ärztin Viviane Camirand gibt Einblick in ihre Arbeit im Magaria District Hospital, wo Ärzte ohne Grenzen daran arbeitet, jungen Menschen das Leben zu retten.
DISTRICT HOSPITAL OF MAGARIA
MSF/Ainhoa Larrea
When three-year old Mohammed Sani arrived at the Magaria District Hospital of Zinder region, he could barely open his eyes due to oedemas. He was suffering from Kwashiorkor, a form of severe acute malnutrition characterised by a swollen face and limbs. Without treatment, complications are frequent and potentially life-threatening, with high mortality rates. He was cared for, and recovered. Just before being healthy enough to leave, he was feeding himself, looking around with curiosity and defiance. After he was discharged, his treatment was home-based; his mother would need to give him sachets of ready-to-use food, and bring him to their closest nutritional centre every week for check-ups.

In Niger führt die  Regenzeit jedes Jahr zu einem Anstieg von Unterernährung und Malaria. Die Ärztin Viviane Camirand gibt Einblick in ihre Arbeit im Magaria District Hospital, wo Ärzte ohne Grenzen daran arbeitet,  jungen Menschen das Leben zu retten.

Das Zelt 1B ist mit 30 schwer mangelernährten Kindern restlos belegt. Ich untersuche jedes der Kinder und stelle jeder Mutter dabei immer wieder dieselben Fragen: Hat das Kind Durchfall? Erbrechen? Fieber? Krämpfe? Seit wann? In Magaria kann die Zeit zum Feind werden, deshalb müssen wir schnell handeln. Fast 18.00 Uhr ist es, als ich bei der zweijährigen Aisha ankomme. Sie hat eine akute Magen-Darm-Entzündung, starke Dehydrierung und ist schwer mangelernährt. Ich habe hunderte von Patientinnen und Patienten mit dieser Diagnose gesehen. Dennoch versuche ich immer gegen Routine und Automatismen anzukämpfen und mache mir bewusst: Jedes Kind ist einzigartig.

Hoffnungslos?

Aisha ist sehr geschwächt. Sie öffnet die Augen nicht. Sie spricht nicht. Vor fünf Tagen ging es ihr noch gut. Wir versuchen, sie zu rehydrieren. Doch ihr Herz schlägt auch Stunden später zu schwach. „Halte durch“, flüstere ich ihr zu. Am nächsten Morgen finde ich Aishas Bett leer vor. An ihrem Platz liegt nur eine Matratze, die vom Reinigungsmittel glänzt. Die Krankenschwester weiß nicht, was passiert ist. Ich denke: „Aisha ist tot“. Und ich bin wütend darüber, dass wir nicht jedes Kind retten können. Von einer anderen Mutter erfahre ich schließlich, dass Aisha auf der Intensivstation liegt. Ich will sie besuchen. 20 Kinder liegen auf der Station und zuerst finde ich sie nicht. Doch dann entdecke ich sie, versteckt auf dem „weißen Bett“, wie der Reanimationstisch bei uns heißt. Aisha atmet mühsam, ihr Blick ist ausdruckslos. Aber sie ist bei uns und kämpft. Liegt ein Kind auf dem weißen Bett, hatte es meist einen Herzstillstand. Bei Aisha hatte die Atmung kurzzeitig ausgesetzt. Als ich spätnachts nach Hause komme, denke ich weiter an sie und fühle mich schuldig. Was hätte ich anders machen sollen? Hoffnung habe ich keine mehr. Unsere Kinderabteilung betreut täglich 200 Kinder. Viele werden von einer Station auf die andere verlegt, bis sie entlassen werden können. Aber einige wenige erholen sich nicht. Nicht immer erfahre ich davon.

Wiedersehen

Zwei Wochen später erhalten wir Besuch von einer Kollegin, der ich unsere Stationen zeige: Intensivpflege, Phase 1, Phase T. Phase T steht für „Transition“ – hier werden die Kinder gesund entlassen. Da sehe ich eine Frau, die lächelnd ihr Kind im Arm hält. Sie kommt mir bekannt vor und als ich das Kind ansehe, begreife ich, warum: Es ist Aisha. Sie blickt mich mit großen Augen an. Erkennt sie mich? Sie lebt!