Libanon: Gesundheitsversorgung für syrische Flüchtlinge

21.06.2012
Interview mit dem stellvertretenden Leiter der Einsätze, Laurent Ligozat.

Seit dem Beginn des Konflikts in Syrien sind zehntausende Syrerinnen und Syrer in benachbarte Länder geflüchtet. Da immer mehr Menschen auf der Suche nach Schutz und medizinischer Versorgung die libanesische Grenze überqueren hat Ärzte ohne Grenzen die Aktivitäten im Libanon in den Regionen Wadi Khaled, Tripoli und der Bekaa-Ebene verstärkt. Der stellvertretende Leiter der Einsätze, Laurent Ligozat, ist soeben aus dem Einsatzgebiet zurückgekehrt.

Über 20.700 geflüchtete Syrer sind mittlerweile offiziell im Libanon registriert, wobei es sich gemäss des Flüchtlingshilfswerks der UNO (UNHCR) um insgesamt 27'000 Flüchtlinge handelt. Die meisten von ihnen befinden sich im Norden und in der Bekaa-Ebene. Einige sind bei Angehörigen oder der lokalen Bevölkerung untergekommen, andere leben in öffentlichen Gebäuden oder verlassenen Häusern. Viele von ihnen besitzen fast nichts und mühen sich tagtäglich ab, um einigermassen menschenwürdig leben zu können. Die Gesundheitsversorgung und einheimische Nichtregierungsorganisationen geraten ebenfalls unter Druck.

Hinsichtlich der Unruhen in Syrien ist derweil keine Entspannung der Lage in Sicht. Die Bombardierungen, die Flucht in die Sicherheit und die Wiederansiedlung im Libanon stellen schwere traumatische Erfahrungen dar – sowohl für Erwachsene als auch für Kinder. Immer wieder kommen traumatische Erlebnisse wie etwa der Verlust von Angehörigen oder des Zuhauses hoch. Viele sind von Angstgefühlen, Unsicherheit und Ungewissheit im Hinblick auf die Zukunft überwältigt. Dazu kommen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind. 

Das Angebot wird ausgebaut

Wir haben festgestellt, dass insbesondere die psychische Gesundheitsversorgung im Angebot der medizinischen Dienstleistungen fehlt. Im November 2011 haben wir deshalb in der nördlichen Region Wadi Khaled mit Behandlungen und Selbsthilfegruppen begonnen sowie Sitzungen in Psychoedukation und Familientherapien eingeführt.

Da sich zunehmend mehr syrische Familien in der nördlichen Stadt Tripoli niederlassen, haben wir unsere Aktivitäten erweitert und sind nun auch im Spital von Dar al Zahraa und im staatlichen Spital von Tripoli tätig. Wir bieten sowohl psychologische und psychiatrische Behandlungen als auch medizinische Grundversorgung an. Letztere umfasst auch Impfungen von Kindern und die Behandlung von chronischen und akuten Krankheiten von Syrern und der lokalen Bevölkerung. Ferner sind wir in der Bekaa-Ebene aktiv, dem wichtigsten Grenzübergang für jene, die vor der Gewalt in Syrien flüchten. Die medizinischen Teams von Ärzte ohne Grenzen haben über 4.600 medizinische Konsultationen sowie mehr als 900 individuelle psychologische und psychiatrische Behandlungen durchgeführt, die für die Patienten alle kostenlos waren. Für 86 medizinische Notfälle haben wir zudem die Spitalkosten übernommen, darunter Geburten, Dialysebehandlungen und lebensrettende Operationen.

Wir haben eng mit lokalen NGOs zusammengearbeitet, die uns den Zugang zu geschwächten Flüchtlingen erheblich erleichtert haben. Diese Organisationen haben uns auch Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, damit wir unsere Arbeit so rasch wie möglich aufnehmen konnten. 

Einheimische nehmen Flüchtlinge bei sich auf

Die einheimische Bevölkerung – sowohl in Wadi Khaled als auch in der Bekaa-Ebene – hat viel dazu beigetragen, das Leiden der syrischen Flüchtlinge zu lindern. Die Solidarität ist gross, viele nahmen Flüchtlinge bei sich auf und teilen Lebensraum und Nahrung mit ihnen. 

Nach wie vor gibt es jedoch zahlreiche Neuankömmlinge, die irgendwo untergebracht werden müssen. Im März haben wir geholfen, fünf öffentliche Gebäude in der Grenzstadt Aarsal für syrische Familien einzurichten. Die Unterbringung ist zu einem grossen Problem geworden, insbesondere in Aarsal und Tripoli. Dies, weil unablässig neue Flüchtlinge ins Land strömen und die Aufnahmekapazität im Hinblick auf den Wohnraum an ihre Grenzen stösst. Ich habe Häuser besucht, wo sich schon jetzt zwei oder drei Familien ein oder zwei Zimmer teilten.

Ohne Hab und Gut

Die syrischen Flüchtlinge kommen oft ohne jeglichen persönlichen Besitz an, und ihre materielle Situation verschlimmert sich schnell weiter, da viele keine Arbeit finden. Es fehlt an zahlreichen Gütern des Grundbedarfs wie Essen, Milch und Windeln für Babys, Hygieneartikeln, Kochausrüstung, Matratzen und Leintüchern. Zwischen Januar und Mai haben wir gegen 2.150 Menschen in der Gebirgsregion Aarsal mit Hilfsgütern, Brennstoff und Holz zum Heizen versorgt.

Wir stellen bei vielen Flüchtlingen Erkrankungen des Bewegungsapparates, akute Atemwegsinfektionen oder Hautkrankheiten fest. Einige davon resultieren aus den schlechten Bedingungen, unter denen so viele leben müssen. Im Winter gab es in Aarsal Familien, die in halbfertigen Gebäuden ohne Schutz vor Schnee und eisiger Kälte hausen mussten. Andere wiederum haben keinen Zugang zu fliessendem Wasser.

Flüchtlinge mit chronischen Krankheiten sind ebenfalls gefährdet, da sie vermutlich Syrien häufig ohne ihre regulären Medikamente verlassen mussten und sich keine neuen leisten können. Wir haben in Tripoli einige schwere Fälle behandelt. So musste beispielsweise einem Patienten wegen Komplikationen im Zusammenhang mit Diabetes eine Zehe amputiert werden. Ein anderer Patient, der unter zu hohem Blutdruck leidet, traf bei uns mit einer halbseitigen Lähmung ein. 

Schreckliche Erfahrungen

Kinder sind besonders verletzlich und gefährdet. Viele von ihnen mussten das Verschwinden von Familienmitgliedern oder den Tod von Verwandten und Freunden miterleben. Nicht selten wurden sie Zeugen von Morden oder massiver Gewalt, mussten ihr Zuhause unter gefährlichen Bedingungen verlassen und sind in Sorge über Angehörige, die zurückblieben. Hinsichtlich der seelischen Gesundheit haben wir Fälle von Mutismus beobachtet, die häufigsten Symptome sind jedoch Bettnässen, regressives oder aggressives Verhalten und konstante Angstzustände im Zusammenhang mit den traumatischen Ereignissen. Erwachsene leiden unter denselben Ängsten. Unsere Teams stiessen auf Menschen mit akuten Symptomen wie Suizidgedanken, posttraumatischen Reaktionen, durch psychologischen Stress ausgelöste physische Beschwerden oder akuten Psychosen. Am häufigsten werden Depressionen und Angstzustände diagnostiziert. 

Aktivitäten als Reaktion auf Spannungen im Libanon

Die Krise in Syrien beeinflusst zunehmend auch die Lage im Libanon, insbesondere die Grenzregionen und Tripoli. Seit Mitte April haben wir unsere Aktivitäten im Bereich der seelischen Gesundheit ins staatliche Spital von Tripoli ausgedehnt. Das Spital befindet sich inmitten eines äusserst konfliktreichen Gebiets, wo ein Notarzt von Ärzte ohne Grenzen auf der Notfallaufnahme aushalf. Dies nachdem sich in Tripoli infolge des Konflikts in Syrien die Kämpfe zwischen verfeindeten Gruppen verschärft und in gewaltsamen Auseinandersetzungen entladen hatten. Ärzte ohne Grenzen strebt eine verstärkte Hilfe für die direkt oder indirekt von der Gewalt betroffene Zivilbevölkerung an. Dazu erarbeitet die Organisation derzeit mit den verschiedenen Behörden einen strukturierten und längerfristigen Plan zur Unterstützung und zur direkten Mitarbeit im Spital und in zwei Gesundheitseinrichtungen. Dies soll den verschiedenen Bevölkerungsgruppen den Zugang zu medizinischer Versorgung deutlich erleichtern.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass unsere medizinische Unterstützung für die Syrer noch immer begrenzt ist, obwohl der Bedarf dafür enorm wäre. Seit mehreren Monaten setzt sich Ärzte ohne Grenzen für eine offizielle Erlaubnis ein, um mit medizinischem Personal in den am stärksten von der Gewalt betroffenen Gebieten arbeiten zu können. Leider führten unsere Bemühungen, entweder direkt über syrische Behörden oder über verschiedene Vermittler, bisher zu keinem Erfolg. Trotz der fehlenden offiziellen Bewilligung für einen Einsatz innerhalb Syriens unterstützt Ärzte ohne Grenzen weiterhin Netzwerke syrischer Ärzte in Homs, Deraa, Hama, Damaskus und Idlib, indem wir sie aus benachbarten Ländern mit Hilfsgütern und Medikamenten beliefern.