"Beenden Sie die Qual der Asylsuchenden auf den griechischen Inseln!"

27.11.2019
Offener Brief
In den Flüchtlingslagern auf Samos und Lesbos wird die Menschenwürde täglich verletzt. Christos Christou, Internationaler Präsident von Ärzte ohne Grenzen, fordert die Staats- und Regierungschefs der EU auf, dieses Unrecht zu beenden.
Lesbos and Samos Oct2019
Anna Pantelia/MSF
"We came here 7 days ago. I have three young children and we all have to sleep in this small tent. Last night it was rainning all night, we all got wet. We put this plastic sheet in an effort to stop the water from coming in)." - Jawad* father of 3. At the moment, 13,000 people stranded in a camp designed to host just 3,000. People in the olive grove have to share their tents with other people with whom, they don’t have any previous relationship. The level of hygiene is very low and people have to share a toilet with another 90 people and a shower with 200. When it rains the tents are getting wet and the area turns into a muddy swamp. MSF team in the pediatric clinic in Moria see an average of 100 children and pregnant women per day. Currently with the recent increase of arrivals our team is struggling to respond to the need that arising. Most of the children our teams see are suffering from diseases which are directly connected with the living conditions such, respiratory tract infections, skin diseases, fever and diarrhea. We also receive children with chronic and complex medical cases who need specialized attention that is not available. Yet, they have to spend months living in unhygienic and unsafe conditions before they are moved to mainland in order to get the much-needed treatment.

In den Flüchtlingslagern auf Samos und Lesbos wird die Menschenwürde täglich verletzt. Christos Christou, Internationaler Präsident von Médecins sans frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) fordert die Staats- und Regierungschefs der EU auf, diesen Missstand endlich zu beenden.


Ich bin gerade von den griechischen Inseln zurückgekehrt und bin schockiert über das, was ich gesehen und von meinen Kollegen vor Ort gehört habe.

Sie erzählten mir von einem zwölfjährigen Jungen, der in unsere Klinik in Moria auf Lesbos kam, nachdem er sich wiederholt mit einem Messer selbst am Kopf verletzt hatte. Sie erzählten mir von einem neunjährigen Mädchen mit schweren Verletzungen von einer Bombenexplosion in Afghanistan. Als sie in Griechenland ankam, lächelte sie noch. Aber in den Monaten, in denen sie auf Lesbos festgehalten wurde, hat sie aufgehört zu reden und zu essen und sich vollständig aus dem Leben zurückgezogen.

Diese Kinder haben Krieg und Verfolgung überlebt. Aber viele Monate an einem unsicheren und erbärmlichen Ort wie Moria waren zu viel für viele unserer kleinen Patientinnen und Patienten – und haben sie in Selbstverletzung und Suizidgedanken getrieben.

Für diese Kinder und für alle anderen Menschen, die Sie weiterhin auf den griechischen Inseln festhalten, sehe ich mich verpflichtet, heute diesen Brief an Sie zu richten.

Chronischer Notstand

Nicht nur Kinder sind gefährdet. Überlebende von Folter müssen Monat um Monat ihren Schlafplatz im Zelt mit völlig Fremden teilen. Opfer von sexueller Gewalt berichten unserem Team in Vathy auf Samos, dass sie aus Angst vor Angriffen nachts die Toiletten nicht benutzen. Unsere Teams haben viele dieser besonders Bedürftigen ausfindig gemacht und behandeln sie, aber viele von ihnen werden von den griechischen Behörden nicht als gefährdet eingestuft. Ihre dringenden Bedürfnisse verschwinden einfach im Labyrinth der behördlichen Prozeduren.

Im Jahr 2016 haben Sie beschlossen, dass es notwendig sei, Menschen im Rahmen einer vorübergehenden Maßnahme auf den griechischen Inseln festzusetzen. Wir haben Sie damals vor den humanitären Konsequenzen Ihres Deals mit der Türkei gewarnt. Wir haben sogar beschlossen, aus Protest kein Geld mehr von den EU-Mitgliedsstaaten anzunehmen. Heute sehen wir das Ergebnis Ihrer Entscheidung: ein chronischer Notstand und ein fortwährender Kreislauf menschlichen Leids.

Tod im EU-Aufnahmelager

Über die vergangenen vier Jahre hinweg hat sich die humanitäre Situation verschlechtert statt verbessert. Eine Frau, ein Kind und ein neun Monate altes Baby sind allein in den vergangenen drei Monaten gestorben – wegen der unsicheren und entsetzlichen Bedingungen in Moria und wegen des Fehlens grundlegender Unterstützung. Sie suchten Sicherheit in Europa und fanden den Tod in einem europäischen Aufnahmelager.


Die Situation auf den griechischen Inseln ist vergleichbar mit jener, die wir nach einer Naturkatastrophe oder in einem Kriegsgebiet in anderen Teilen der Welt antreffen. Solche Zustände in Europa zu sehen, einem vermeintlich sicheren Kontinent, ist eine Schande. Umso mehr, als sie das Resultat von bewusst gewählten politischen Entscheidungen sind.

Anstatt das aufgrund Ihres Handelns verursachte Leid einzuräumen, fordern Sie eine immer noch nachdrücklichere Durchsetzung des EU-Türkei-Deals. Sie ziehen sogar noch brutalere Maßnahmen in Betracht, wie die jüngst von der griechischen Regierung angekündigten Pläne, die Hotspots in Internierungslager umzuwandeln und Abschiebungen zu beschleunigen.

Stoppen Sie diesen Wahnsinn.

Nach vier Jahren müsste Ihnen klar sein, dass sämtliche Strategien, die darauf abzielen, Menschen von Europa fernzuhalten, nur zu noch mehr Todesfällen und Leid führen.

Menschliches Leid wird bewusst verursacht

Von der chaotischen Situation, die Sie im Mittelmeer geschaffen haben, mit einem Zyklus des Abfangens auf See, der Folter und der willkürlichen Inhaftierung in Libyen, bis hin zu gewaltsamen Rückführungen auf dem Balkan, wo Tausende vor dem Winter unter unmenschlichen Bedingungen leben: Der Schaden, den diese Politik anrichtet, ist unermesslich. Und die gleichen Maßnahmen – Rückführungen, Abschottung, willkürliche Inhaftierung, Diskriminierung und Missbrauch – werden zunehmend weltweit nachgeahmt.

Keine politische Argumentation kann Maßnahmen rechtfertigen, die absichtlich und bewusst Leid verursachen. Wir haben Ihnen wiederholt aufgezeigt, dass Ihre Politik genau dies tut. Hören Sie auf, dies zu ignorieren.

Als Arzt, der eine humanitäre Organisation vertritt, bin ich empört, wie Sie dieses Leiden rechtfertigen und zu einer Normalität gemacht haben, als ob es ein akzeptabler Preis dafür wäre, so viele Menschen wie möglich aus Europa fernzuhalten.

Es braucht sichere Unterkünfte

Wir als Ärzte ohne Grenzen können diese himmelschreiende Missachtung der Menschenwürde nicht akzeptieren. Wie auch immer wir unseren Patienten auf den griechischen Inseln helfen können, hinterher müssen wir sie in genau die Umstände zurückschicken, die sie krank gemacht haben. In Umstände, die Sie bewusst geschaffen haben. Es gibt wenig, was unsere Teams vor Ort tun können, um diesen Kreislauf des Leidens zu stoppen. Dafür haben wir keine Mittel. Es liegt in Ihren Händen. Sie müssen den politischen Willen haben, zu handeln, und zwar jetzt. Diese menschliche Tragödie muss aufhören.

Stoppen Sie die bewusste, kollektive Bestrafung von Menschen, die in Europa Sicherheit suchen. Bringen Sie dringend die besonders gefährdeten Menschen aus diesen Lagern in sichere Unterkünfte in anderen europäischen Staaten. Beenden Sie die Politik der Abschottung. Brechen Sie ein für alle Mal den Kreislauf des Leidens auf den griechischen Inseln.