Offener Brief an Bundeskanzler Christian Kern

18.05.2016
Fügen Sie Schutzsuchenden nicht weiteres Leid zu. Schieben Sie Ihre Verantwortung nicht an andere Länder ab. Nutzen Sie Ihre Ressourcen, um echte Lösungen zu finden und Menschen auf der Flucht Schutz zu bieten – statt die Abschreckungspolitik fortzuführen.
Wien, Österreich, 19.5.2016: In einem offenen Brief fordert Ärzte ohne Grenzen die Regierung auf ihre Abschreckungspolitik gegen Menschen auf der Flucht zu beenden.

Betreff: Offener Brief an Bundeskanzler Mag. Christian Kern

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Kern,
Sperren Sie Menschen auf der Flucht nicht aus!

Wir schreiben Ihnen heute, um unsere große Sorge über die Unterzeichnung des EU-Türkei-Abkommens und die Verschärfung des Asylgesetzes in Österreich mitzuteilen. Damit zeigen Sie Menschen auf der Flucht vor Krieg, Unterdrückung und hoffnungslosen Zuständen die kalte Schulter.

Internationale Schutzbestimmungen durch EU-Türkei Abkommen ausgehebelt

Das EU-Türkei-Abkommen hat die Versorgung dieser Menschen im Tausch gegen milliardenschwere Hilfszahlungen praktisch an die Türkei ausgelagert. Und Österreich schafft mit der Aushebelung internationaler Schutzbestimmungen für Schutzsuchende einen Präzedenzfall, der Auswirkungen weit über Österreich hinaus haben kann. In einer Zeit, die von den größten Vertreibungen seit Jahrzehnten gekennzeichnet ist, ist dies eine historische Absage an die moralische und rechtliche Verantwortung Europas.

Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) kümmert sich seit Jahren um die Opfer der europäischen Abschreckungspolitik gegenüber Menschen auf der Flucht. Diese hat inzwischen zu einer akuten humanitären Krise auf europäischem Boden geführt. Unsere Teams haben Knochenbrüche behandelt, die von Polizisten verursacht wurden. Sie haben Kinder behandelt, die von Gummigeschossen am Kopf getroffen wurden. Sie haben die Augen von Babys gereinigt, die mit Tränengas besprüht wurden. In Idomeni sind wir mit den konkreten Folgen der österreichischen „Obergrenze“ konfrontiert, die zu einer Kettenreaktion der Grenzschließungen in Balkan-Staaten geführt hat. Doch anstatt die Krise zu entschärfen, haben sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten dazu entschieden, wegzuschauen und die Verantwortung anderen zuzuschieben.

Recht auf Asyl wird de facto abgeschafft

Sowohl das EU-Türkei-Abkommen als auch das österreichische Vorhaben, per „Notstand“ das Recht auf Asyl de facto abzuschaffen – zumindest auf absehbare Zeit – bedrohen das Recht aller Menschen, um Schutz anzusuchen. Männer, Frauen und Kinder auf der Flucht in Transitländer zurückzudrängen, reduziert das Recht auf Asyl auf eine politische Verhandlungsmasse, mit dem Ziel, sie so weit wie möglich von europäischen Grenzen fernzuhalten. Es gibt heute praktisch keine Möglichkeit mehr, sicher europäischen Boden zu erreichen, um Asyl zu beantragen.

Im Gegenzug hat die EU der Türkei „humanitäre“ Unterstützung und Entwicklungshilfe für syrische Flüchtlinge angeboten. Diese Gelder wurden als Maßnahme präsentiert, um Not zu lindern. Aber diese Hilfe ist an die Bedingung geknüpft, Flüchtlinge aus Europa auszusperren. Damit wird der Grundsatz verraten, dass sich humanitäre Hilfe ausschließlich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren muss und keinen politischen Zielen untergeordnet werden darf. Das bringt Hilfsorganisationen in ein Dilemma: Es wird von ihnen erwartet, dringend benötigte Hilfe im Dienste einer unmenschlichen Politik zu leisten, deren oberstes Ziel die Schließung von Europas Grenzen ist.

Zweifellos gibt es Hilfsbedarf in der Türkei, die bereits Mühe hat, den fast drei Millionen Geflüchteten im Land wirksamen Schutz zu bieten. Aber wir fordern, humanitäre Hilfe in der Türkei völlig unabhängig von politischen Vereinbarungen zu leisten.

Konzept der "Schutzzonen" für Menschen in Syrien ist eine Illusion

Der EU-Türkei-Deal sendet ein beunruhigendes Signal an den Rest der Welt: Länder können sich aus ihrer Verantwortung gegenüber Schutzsuchenden freikaufen. Wenn dies von weiteren Staaten übernommen wird, wird der Grundsatz schwer beschädigt, dass Menschen vor Krieg und Verfolgung aus ihren Heimatländern fliehen dürfen. Wir befürchten, dass Menschen in Kriegsgebieten festsitzen werden. Vor wenigen Tagen wurde ein Vertriebenenlager bei Idlib in Syrien bombardiert, 28 Menschen wurden getötet. Das zeigt: Derzeit ist das Konzept von „Schutzzonen“ für Flüchtlinge in Syrien eine Illusion.

Gleichzeitig herrschen beschämende Aufnahmebedingungen für jene Schutzsuchenden, die es trotz allem nach Europa schaffen. Ähnlich wie im vergangenen Sommer im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen tausende Menschen unter unwürdigen Bedingungen leben mussten, werden heute die Menschen in den EU-„Hotspots“ auf den griechischen Inseln nur unzureichend geschützt. Frauen haben Angst, nachts auf die Toilette zu gehen. Mütter betteln um Muttermilchersatz, um ihre Babys zu ernähren.

Viele Bürger und Bürgerinnen engagieren sich freiwillig für Menschen auf der Flucht. Aber die politische Führung Österreichs bleibt aus Angst vor politischen Nachteilen dahinter zurück. Liegt der Zweite Weltkrieg schon so lange zurück, dass sich Europa nicht mehr an das grundlegende Recht erinnert, vor Gewalt und Verfolgung zu fliehen, wenn es keine andere Wahl mehr gibt?

Wir appellieren dringend an Sie, Herr Bundeskanzler: Fügen Sie Schutzsuchenden nicht weiteres Leid zu. Schieben Sie Ihre Verantwortung nicht an andere Länder ab. Nutzen Sie Ihre Ressourcen, um echte Lösungen zu finden und Menschen auf der Flucht Schutz zu bieten – statt die Abschreckungspolitik fortzuführen.

Hochachtungsvoll,
Mag. Mario Thaler

Geschäftsführer,
Ärzte ohne Grenzen Österreich