Philippinen: Drei Monate nach Taifun Haiyan

10.02.2014
Hilfsmaßnahmen in vollem Gange, doch Wiederaufbau braucht länger als erwartet

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Lokale Logistik-MitarbeiterInnen von Ärzte ohne Grenzen (c) Julie Remy
Julie Remy
Guiuan, Philippinen, 10.12.2013: Lokale Logistik-MitarbeiterInnen von Ärzte ohne Grenzen entfernen Schutt des eingestürzten Krankenhauses in Guiuan.

Vor drei Monaten, am 8. November 2013, hat Taifun Haiyan die Philippinen erschüttert – 16 Millionen Menschen waren betroffen. Die Nothilfe-Teams von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) vor Ort berichten, dass trotz der Hilfsmaßnahmen, die bereits in vollem Gange sind, der Wiederaufbau länger brauchen wird als erwartet.

„Der Müll, der direkt nach dem Taifun die Straßen überschwemmt hat, ist bereits fast vollständig aufgeräumt“, so Foura Sassou Madi, Einsatzleiterin in Tacloban, wo Ärzte ohne Grenzen ein aufblasbares Krankenhaus errichtet hat. „Elektrizität und Wasser sind verfügbar, die Geschäfte, Betriebe und Schule sind geöffnet. Manche Wohnhäuser werden wiederaufgebaut und temporäre Unterkünfte stehen für jene zur Verfügung, die durch den Taifun obdachlos geworden sind.“

„Obwohl die Menschen versuchen, wieder ihr normales Leben zu führen, beginnen sie zu begreifen, dass ‚normal‘ nicht mehr existiert“, erklärt Alexander Buchmann, Notfall-Koordinator in Guiuan, wo Ärzte ohne Grenzen ein Krankenhaus mit 60 Betten führt. „In Guiuan gibt es niemanden, der nicht vom Taifun betroffen war. Menschen haben ihre Häuser, ihre Arbeit, ihre Angehörigen verloren – diese Wunden werden eine lange Zeit brauchen, um zu heilen.“

 

Medizinische Hilfe weiterhin notwendig

 

In den drei Monaten, die Ärzte ohne Grenzen auf den Philippinen tätig ist, haben sich die medizinischen Bedürfnisse verändert. Das Team von Ärzte ohne Grenzen in Guiuan berichtet, dass sich nach einem akuten Anstieg der Fälle direkt nach dem Taifun die Lage mittlerweile stabilisiert hat. „Es besteht noch immer ein Zusammenhang zwischen manchen der Fälle, die wir behandeln, und dem Taifun“, erklärt Buchmann. „Die Menschen hier sind stark der Natur ausgesetzt, daher haben wir viele Fälle von Atemwegsinfektionen und Hautentzündungen. Es kommen auch PatientInnen mit chronischen Krankheiten zu uns, die ihre Medikamente verloren haben. Sie brauchen auch eine Behandlung für alltägliche Gesundheitsprobleme – die Menschen hören nicht auf, krank zu werden, nur weil ihr Leben von einer Naturkatstrophe auf den Kopf gestellt wurde.“

Das Team von Ärzte ohne Grenzen in Tacloban behandelt auch Menschen, die sich verletzen, während sie versuchen, ihre Häuser wiederaufzubauen: „Wir behandeln sehr viel Schnittwunden an Händen und Füßen durch Nägel und Wellblech“, erklärt Notfallärztin Dr. Emma Clark in Tacloban. „Wir behandelten auch zwei PatientInnen mit schweren Verbrennungen – sie hatten Wellblech getragen, das mit herabhängenden Stromkabeln in Berührung kam.“

 

Verletzungsgefahr auf Schutthalden und in Notunterkünften

 

Eltern bringen ihre Babies und Kinder zur Behandlung von Atemwegsentzündungen und Magen-Darm-Erkrankungen – eine Folge der Lebensumstände in überfüllten Evakuierungszentren und Hausgemeinschaften.  Kinder verletzten sich auch beim Spielen auf Schutthalden und Baustellen. Jede Woche behandelt das Team in Tacloban außerdem zwei bis drei Kinder, die unabsichtlich Kerosin getrunken haben, das viele Menschen für Beleuchtungsmittel und zum Kochen verwenden.

„Vergangene Woche hatten wir einen entsetzlichen Fall“, erklärt Dr. Clark. „Eine fünfköpfige Familie, die in einem Zelt lebt, kam mit schweren Verbrennungen zu uns – eine Kerosinlampe war umgefallen. Ein Baby und seine junge Schwester erlagen wenig später ihren Verletzungen. Stellen Sie sich vor, diese Familie zu sein – erst verlieren Sie alles wegen eines Taifuns und drei Monate später auch noch zwei Familienmitglieder.“

 

Gesundheitssystem noch nicht vollständig stabilisiert

 

Währen der vergangenen Monate hat Ärzte ohne Grenzen seine Programme an die lokalen Bedürfnisse angepasst: In den Gebieten, wo sich das Gesundheitssystem bereits erholt hat oder andere Organisationen tätig sind, werden die Aktivitäten nach und nach eingestellt – sie bleiben aber dort weiterhin präsent, wo die Hilfe von Ärzte ohne Grenzen noch gebraucht wird.

Sowohl in Guiuan als auch in Tacloban wird die Organisation weiterhin Chirurgie, stationäre medizinische Versorgung, psychologische Betreuung und andere medizinische Leistungen anbieten, bis die Kapazität der lokalen Gesundheitsversorgung wiederhergestellt ist.

„Die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen macht hier in Tacloban immer noch einen großen Unterschied aus“, erklärt Sassou. „Jeden Tag bilden sich Menschenschlangen vor unserer Ambulanz, wo wir vergangene Woche 2.406 PatientInnen behandelt haben. Auch in unserer Entbindungsstation oder dem Notfall-OP ist nicht weniger los, und als die Schule wieder geöffnet wurde, haben wir für die Kinder ein neues psychologisches Betreuungsprogramm gestartet. Jeden Tag kommen Menschen zu uns, um medizinische Hilfe zu erhalten, die sie sonst nirgends bekommen.“

 

Temporäres Krankenhaus in Guiuan für die nächsten fünf Jahre

 

Diese Woche hat Ärzte ohne Grenzen die Genehmigung für den Bau eines temporären Krankenhauses in Guiuan erhalten. Dieses Fertigteil-Krankenhaus wird PatientInnen aus den Feldspitälern aufnehmen, bis das durch den Taifun zerstörte Krankenhaus in Guiuan wiederaufgebaut werden kann. Sobald das temporäre Krankenhaus aufgebaut ist, wird es an das lokale Gesundheitsministerium übergeben werden.

„Unsere Notfall-Zelte sind keine Langzeitlösung. Im Jänner haben sintflutartige Regenfälle die Zelte immer wieder bis an ihre Grenzen gebracht – was die Menschen in Guiuan verständlicher Weise sehr beunruhigt hat, ob wohl ein weiterer Taifun unterwegs ist. Gestern haben wir mit Aufräumarbeiten begonnen um das Areal vorzubereiten, dass für das temporäre Krankenhaus vorgesehen ist – in vier Monaten sollte das Krankenhaus funktionsfähig sein. Entwickelt wurde es für eine Einsatzdauer von fünf Jahren“, so Foura Sassou Madi.

 

Überblick der Hilfsaktivitäten von Ärzte ohne Grenzen

 

In den drei Monaten seit Taifun Haiyan haben die Nothilfe-Teams von Ärzte ohne Grenzen medizinische Versorgung und psychologische Betreuung durchgeführt sowie tausende an Hilfspaketen mit lebensnotwendigen Gütern verteilt. Mit Booten, Helikoptern, Flugzeugen und auf den Straßen haben unsere Teams dringend benötigte Hilfe in einigen der am schwersten betroffenen Gegenden der Philippinen angeboten.

Neben Zelten, Kochutensilien, Nahrung und Hilfe für den Wiederaufbau hat Ärzte ohne Grenzen zehntausende Menschen mit sauberem Trinkwasser versorgt: Im Umfeld von Guiuan im Osten der Insel Samar, in Tacloban, Ormoc, Santa Fe und Burauen auf der Insel Leyte sowie rund um Estancia und auf der nordöstlichen Inselgruppe der Insel Panay .

Während dieser drei Monate haben die Nothilfe-Teams von Ärzte ohne Grenzen 81.261 ambulante Behandlungen durchgeführt, 1.630 PatientInnen stationär im Krankenhaus aufgenommen, 516 chirurgische Eingriffe vorgenommen, die Geburt von 589 Kindern begleitet sowie 94.033 humanitäre Hilfsgüter verteilt inklusive Paketen mit Material für provisorische Unterkünfte, Zelte, Moskitonetze, Hygiene-Kits und Kochsets.

Die Notfall-Teams in Guiuan sind derzeit mit der Prävention des Dengue-Fiebers beschäftigt sowie mit Wasseraufbereitung und der Errichtung sanitärer Anlagen. Bisher haben sie 85 Quellen gereinigt und 372.000 so genannte „Aqua-Tabs“ zur Wasserreinigung verteilt. Ärzte ohne Grenzen hat auch Nahrung für die 11.000 Familien auf der Inselgruppe nordöstlich der Insel Panay verteilt. Im selben Gebiet wurden 14.999 Kinder gegen Masern und 4.654 gegen Polio geimpft.