Psychologische Hilfe für syrische Flüchtlinge auf der Insel Kos

24.09.2015
„Töten oder getötet werden. Wir hatten keine andere Wahl.“ - unsere Psychologin Marina Spyridaki berichtet von ihrer Arbeit mit Menschen auf der Flucht.
Refugee children of Kos
Alva White/MSF
Kos, Griechenland, 03.09.2015: Einige Flüchtlingskinder spielen neben den Zelten in der Mittagshitze. Die Menschen warten darauf, von den griechischen Behörden ihre Papiere zu erhalten, um weiterzureisen.

Unsere Psychologin Marina Spyridaki unterstützt Flüchtende auf der griechischen Insel Kos, während diese auf ihre Papiere für ihre Weiterreise warten. Sie spricht mit ihnen über ihre bisherige Flucht, über ihre Ängste und Wünsche. Sie berichtet von den schlimmen Erlebnissen, die die Menschen durchgemacht haben und davon, was ihnen in der aktuellen Situation ihr Selbstwertgefühl und ihre Würde nimmt. Besonders um die Kinder macht sie sich Sorgen.

Ich biete den Menschen auf Kos psychosoziale Hilfe an. Dazu suche ich sie an den Orten auf, wo sie leben müssen: im Park, am Hafen, auf der Straße, einfach überall. Für die vielen kleinen Kinder, die täglich auf die Insel kommen, biete ich Spiele an. Dabei können sie ihre Gefühle ausdrücken. Wir sind zusammen kreativ, zum Beispiel malen und puzzeln wir. Die Kinder erzählen mir dann von ihrem Wunsch, nach Hause zurückzukehren. Aber ich glaube, dass sie unter Zuhause allgemein einen sicheren Ort verstehen, der weit weg vom Krieg und den Straßen von Kos ist. Am häufigsten malen die Kinder deshalb ein Haus an einem sonnigen Tag, mit ihren Familien darauf.

Selbst wenn die Kinder glückliche Momente beim Spielen erleben, ist es nicht einfach für sie, hier zu sein. Ihre Eltern sagen mir, dass sich ihr Verhalten nach der gefährlichen Bootsfahrt von der Türkei nach Kos geändert hat, dass sie jetzt oft weinen. Wir unterstützen deshalb die Eltern im Umgang mit solchen Verhaltensänderungen und bieten den Kindern Trost.

Die Kinder mussten viel ertragen

Es bereitet mir große Sorgen, dass diese Kinder so viel ertragen mussten, angefangen vom Krieg in ihrem Land bis hin zur Flucht über das Meer. Zum Beispiel traf ich einen kleinen syrischen Jungen, der gerade in seinem Elternhaus war, als das von einer Bombe getroffen wurde. Er heißt Adnan.  Danach bemerkten seine Eltern an ihm viele Veränderungen: Er hörte auf zu sprechen, konnte nachts nicht mehr schlafen. Bei ihm wurde später eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Auch wenn Kinder wie er irgendwann ein stabiles Zuhause finden und ihnen Liebe und Schutz gegeben werden, es wird noch schwer für sie werden.

Es gibt auch viele unbegleitete Kinder hier. Oft versuchen sie, ihr tatsächliches Alter zu verheimlichen - und auch die Tatsache, dass sie offenbar allein unterwegs sind. Sie versuchen vorzugeben, dass sie volljährig sind und mit einem Onkel oder Cousin reisen, weil ihnen gesagt wurde, dass sie sonst als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling festgenommen werden. Es gab hier einen 14-jährigen syrischen Jungen, der alleine auf die Insel kam. Eine Hafenarbeiterin sah ihn jeden Tag weinend und bat uns, ihm zu helfen. Der Junge war sehr verzweifelt und wollte zurück in die Türkei, seine Mutter war noch dort. Er wollte nicht mehr ohne sie sein. Aber seine Familie hatte für ihn so entschieden und es war für ihn nicht mehr möglich zurückzugehen.

Hitze, Müllberge, kein sicherer Ort

Wir führen auch psychologische Beratungsgespräche mit Erwachsen durch - neben Gruppengesprächen bieten wir individuelle, auch fortlaufende Sitzungen an. Die Menschen sind sehr offen und teilen ihre Sorgen und Gefühle über die aktuelle Situation und die Zukunft mit uns. „In der Nacht bin ich sehr in Sorge“, sagte ein Vater. „Meine Familie und ich schlafen im Eingang des „Captain Elias“-Hotel. Dort gibt es keinen Strom. Ich fürchte um die Sicherheit meiner Frau und meiner Kinder.“

Eine alleinerziehende Mutter, allein auf der Reise mit ihrer Tochter, erzählte mir, wie verängstigt sie war, als sie im Freien schlafen mussten und wie besorgt sie war, dass ihnen etwas Schlimmes passiert. Aus Liebe zu ihrer Tochter war sie vor der Gewalt in Afghanistan geflohen.

„In Europa behandeln sie uns wie Tiere“

Andere sind sehr verärgert über die Lebensbedingungen hier. Mütter müssen ihre Babys auf den schmutzigen Boden legen; in der Hitze und von Müllbergen umgeben. Einer sagte: „Wir sind Menschen, aber hier in Europa behandeln sie uns wie Tiere.“ Viele kamen auf der Suche nach Sicherheit mit großen Erwartungen nach Europa, um dann von den Bedingungen enttäuscht zu werden. Auch der Mangel an Informationen wirkt sich negativ auf die Menschen aus, sie werden dadurch noch ängstlicher und unsicherer. Oft sind sie völlig verloren und brauchen Orientierung.

Es macht mich traurig, wenn ich höre, dass Eltern nicht einmal ihre Kinder füttern, waschen oder zur Toilette bringen können.  Die Flüchtlinge haben wirklich nicht erwartet, dass sie hier so empfangen werden. Ein Mann sagte: „Wenn ich gewusst hätte, dass es so sein würde, wäre ich zurück nach Syrien geschwommen.“ Nach allem, was sie durchgemacht haben, müssen die Menschen hier auf dem Boden schlafen, ohne Wasser oder Nahrung. Viele Leute haben zu mir gesagt: „Zu Hause herrschte zwar Krieg, aber wir hatten wenigstens unsere Würde.“

Die Flüchtlinge trifft keine Schuld

Ich versuche immer den Menschen zu erklären, dass es nicht die Schuld der Flüchtlinge ist, dass sie jetzt hier sind. Umgeben von Krieg, Tod und Gewalt hatten sie keine andere Wahl. Sie mussten fliehen.

„Meine beiden Töchter starben, als eine Bombe in mein Haus einschlug“, erzählte mir ein Vater. „Ich hatte nicht einmal Zeit ihren Tod zu betrauern, weil ich den Rest meiner Familie beschützen musste.“ So etwas höre ich oft - diese Menschen müssen so viel ertragen und haben keine Zeit und Energie mehr für andere Dinge. Es geht nur noch ums blanke Überleben.

Sich die Last von der Seele reden

Viele wollen über ihre Reise von der Türkei nach Kos erzählen. Während einige von Schmugglern gut behandelt wurden, entführte man andere, um Lösegeld zu erpressen. Viele berichten von Folterungen in den Händen der Menschenhändler. Dabei betonen sie immer wieder, dass sie gezwungen waren die Schmuggler zu bezahlen, um aus ihrer Heimat fliehen zu können. „In unserem Land hatten wir nur zwei Möglichkeiten: Töten oder getötet werden. Oder uns selber retten. Wir hatten keine andere Wahl.“

Einige Eltern verlieren ohne ihre beschützende Rolle als Mütter oder Väter ihr Selbstwertgefühl. Ein Vater beschrieb mir, wie schwer es für ihn war, unter diesen Bedingungen für seine Familie zu sorgen. Unter Tränen zeigte er mir Videos auf seinem Handy, in denen seine Familie über die Grenze zwischen dem Iran und der Türkei kriechen musste. Er redete sich diese Last von seiner Seele, weil er für seine Familie wieder stark sein wollte.