„Sobald die Tür zu ist, nehmen wir uns Zeit und hören zu“

Interview zur psychosozialen Hilfe für syrische Flüchtlinge im Lager Domiz
10.10.2013
Dr. Henrike Zellmann im Irak
MSF
Domeez, Irak, 08.10.2013: Psychologin Dr. Henrike Zellmann mit einer Gruppe syrischer Flüchtlinge im Flüchtlingslager Domeez im Norden des Irak.

Neben anderen Aktivitäten zur medizinischen Versorgung der syrischen Flüchtlinge hat Ärzte ohne Grenzen in Domiz im Nordirak ein Projekt zur psychologischen Unterstützung hunderter Patienten. Sie haben traumatische Erfahrungen durchlebt, und die Lebensbedingungen in den Lagern setzen ihnen stark zu. Viele von ihnen waren bereits vor dem Konflikt mit psychischen Beeinträchtigungen diagnostiziert worden. Durch den Krieg mussten sie unter Umständen lange ohne Medikamente oder Betreuung zurechtkommen. Die Psychologin Dr. Henrike Zellmann ist für unsere Organisation im Flüchtlingslager in Domiz und berichtet vom wachsenden Bedarf an psychosozialer Hilfe, weil die Menschen ohne Hoffnung auf eine Veränderung ihrer Situation sind.

"Im Flüchtlingslager Domiz beobachten wir eine Verschlechterung des psychischen Zustands der Menschen. Sie sind komplett ernüchtert. Bei ihrer Ankunft hatten sie vielleicht noch Hoffnung, dass diese Situation nicht länger als einige Monate andauern würde. Doch nun realisieren sie, dass die Lage sich nicht bessert, und sie wissen nicht, ob und wann sich das ändern wird.

Die psychische Verfassung der Flüchtlinge ist sehr fragil. Es gibt viele Auslöser, durch die sich ihre Gemütslage umgehend verschlechtern kann: die Lebensbedingungen im Lager, Erinnerungen an den anhaltenden Konflikt in Syrien und die Ungewissheit, wann der Krieg zu Ende sein wird oder ob sie jemals in ein normales Leben werden zurückkehren können. Wenn man in diesem Zustand der Ungewissheit lebt, beeinträchtigt dies das psychische Wohlbefinden enorm. Die Flüchtlinge hier befinden sich ununterbrochen in diesem Zustand.

Stigma psychischer Beeinträchtigungen

Wir haben hier viele Menschen, die an ernsten psychischen Störungen, zum Beispiel Psychosen, leiden. Da bei der Flüchtlingsbevölkerung das Gefühl von Frustration deutlich zugenommen hat, sind die Beschwerden, die wir behandeln, wesentlich komplexer. Obwohl Kriegstraumata und schwierige Lebensbedingungen nicht die alleinigen Ursachen für psychotische Episoden sind, können sie Auslöser dafür sein.

Vor einigen Wochen kam eine Frau zu uns in die Klinik, die Symptome eines Deliriums zeigte. Sie dachte, sie sei mit elf Kindern schwanger. Wir waren besorgt, da sie drei Kinder hat und wir nicht wussten, wie die Lage für diese zu Hause aussah. Wir besuchten die Familie und stellten fest, dass die Situation unauffällig war und dass die Frau von ihren Nachbarn viel Unterstützung erhielt. Wir werden ihren Fall weiterhin begleiten und sie dazu ermutigen, uns für die Beratungen aufzusuchen. Das Stigma rund um die psychische Gesundheit kann hier ein großes Hindernis darstellen. In diesem Fall war es daher beeindruckend zu sehen, dass sich die Gemeinschaft mit der Frau solidarisch zeigt.

Kinder: Gut zu wissen, dass Freunde das gleiche durchmachen

Wenn ich die betroffenen Kinder hier sehe, ist es schwierig, sich vorzustellen, was sie durchmachen. Ich habe das Gefühl, dass sie nur Zeit verlieren, dass sie nicht die für ein gesundes Aufwachsen so wichtigen Erfahrungen machen können. Viele von ihnen können noch immer nicht zur Schule gehen, da es im Lager nicht genügend Angebote gibt. Also verbringen sie ihre Zeit schlicht und einfach damit, im Staub zu spielen. Einige müssen sich eine Arbeit suchen, um ihre Familien zu unterstützen, und 13- oder 14-jährige Jugendliche können ihre Ausbildung nicht fortsetzen.

Bei Sitzungen mit Kindern ist es wichtig, ihnen verständlich zu machen, dass ihre Reaktionen normal sind. Sie befinden sich in einer Ausnahmesituation, und es hilft ihnen zu wissen, dass es vielen ihrer Freunde gleich geht.

Sprechen bringt Erleichterung

Zu den häufigsten Symptomen bei Kindern gehört das Bettnässen. Eltern kann dies zusätzlich belasten, da sie oft nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. In der Beziehung zum Kind kann es zu Spannungen führen, weil sich das Kind vielleicht schämt.

Ein zehnjähriger Junge wurde uns aus diesem Grund vorgestellt. Er war vor einigen Monaten in den Irak gekommen und wurde im Lager wieder mit seiner Familie vereint. Wir machten ihm klar, dass Bettnässen unter diesen Umständen nichts Ungewöhnliches sei, gaben ihm einige Ratschläge, wie er das Problem überwinden könne, und versicherten ihm, dass es keine große Sache sei. Es war so schön, seine erleichterte Reaktion zu sehen und dass er lediglich durch offenes Ansprechen des Themas einen großen Teil seiner Schamgefühle überwinden konnte.

Seelische Wunden sind für viele oft unsichtbar

Die seelischen Wunden sind für viele oft unsichtbar. Unser Team dagegen sieht, wie tief diese Verletzungen sind. Mit am wichtigsten ist, dass wir den Patienten ganz einfach Zeit geben, sich mitzuteilen. Patient und Berater arbeiten zusammen, um einen Weg zu finden, mit der Situation umzugehen, Symptome zu lindern und schließlich die Reaktion wieder besser steuern zu können. Viele wollen ihre Familien nicht mit ihren Problemen belasten, deshalb ist es für sie sehr hilfreich, mit jemandem außerhalb der Familie in einem vertraulichen Rahmen zu reden.

Manchmal kommen Menschen zu uns, die sehr aufgewühlt und traumatisiert sind. Sie weinen oder stehen unter großem Stress. Wir können diesen Patienten einen sicheren Raum geben, um sich auszusprechen und wo sie an ihrem Verhalten arbeiten können, wo sie merken, dass sie nicht ‚anormal', nicht verrückt sind. Sobald die Tür zu ist, nehmen wir uns Zeit für sie und hören ihnen zu. Ohne aufdringlich zu sein, begleiten wir die Patienten bei der Heilung. Wenn die Wunden heilen, bedeutet das jedoch nicht, dass auch das Leiden verschwindet. Wenn wir den Betroffenen jedoch helfen können, Wege zu finden, wie sie besser mit diesem Leiden umgehen können, dann ist das sehr viel."

Impressionen der österreichischen Psychologin Margaretha Maleh und der Allgemeinmedizinerin Katharina Resch von ihrem Einsatz im  Flüchtlingslager Domiz  finden Sie im Blog von Ärzte ohne Grenzen Österreich: "Exodus aus Syrien - von Zelten im Schnee und menschlicher Wärme"