Syrien: „Ich kann mein Volk nicht Stich lassen“ - Bericht eines Chirurgen aus Homs

15.03.2016
Obwohl er in ständiger Angst vor Luftangriffen lebt, fühlt er sich verpflichtet, zu bleiben und die Menschen medizinisch zu versorgen.

Obwohl er in ständiger Angst vor Luftangriffen lebt, fühlt er sich verpflichtet, zu bleiben und die Menschen medizinisch zu versorgen. Ein Chirurg, der im ländlichen Norden des Regierungsbezirks Homs arbeitet, erzählte uns im Herbst vergangenen Jahres von seinem “Alltag” und seinen quälenden Ohnmachtsgefühlen. Er gehört zu denjenigen Medizinern, die Ärzte ohne Grenzen in Syrien unterstützt und ist als Facharzt für Chirurgie für rund 100.000 Menschen zuständig. Leider hat sich für sie wie für die Menschen in Syrien die Situation keineswegs verbessert.

Die meisten anderen Chirurgen sind fortgegangen. Ich bin in einer schwierigen persönlichen Lage und in einem inneren Zwiespalt. In einer Zeit, in der andere Chirurgen nicht hierher kommen können, kann ich nicht gehen und die Menschen zurücklassen. Doch es geht mir hier nicht gut. Meine Frau und unsere Kinder leben in ständiger Gefahr. Ich bin sehr unglücklich wegen dieser Situation. Aber ich weiß auch, dass die Menschen uns dringend brauchen.

Luftangriffe in der Region Homs bringen Tod und Vertreibung

Die medizinische Versorgungslage ist katastrophal. Als die Zahl der Luftangriffe in der Region Homs im Oktober massiv anstieg, sahen wir in den ersten paar Tagen mehr als 100 Tote und Hunderte Verletzte infolge der Bombenabwürfe. Der Handlungsspielraum für die Menschen ist gering. Seit Mitte 2012 wird die Region nördlich von Homs belagert. Die Bevölkerung flieht aus belagerten Ortschaften wie Deir Maalle und Al-Ghanto, die heftig bombardiert werden, in andere Ortschaften wie Ar-Rastan und Al-Zafaranah, die zwar auch belagert werden, aber vergleichsweise sicher sind. Mit der Vertreibungswelle ist die Bevölkerung dort auf mehr als 100.000 Menschen angewachsen.

Die durchschnittliche Zahl unserer ambulanten Behandlungen lag einmal bei 100 bis 150 pro Tag. Aufgrund des Bevölkerungsanstiegs ist sie im Krankenhaus von Al-Zafaranah jetzt eineinhalb Mal so hoch.

Erschütternde Kinderschicksale

Es versteht sich von selbst, dass in den Kliniken in ruhigeren Gebieten mehr chirurgische Eingriffe durchgeführt werden können als dort, wo Bomben fallen. Die Belastung für die beiden Kliniken in Deir Maalle und Al-Ghanto ist enorm, obwohl sie die am schlechtesten ausgestatteten in der Region sind. Manchmal gelingt es uns, medizinische Geräte aus anderen Kliniken in diejenigen zu holen, die mitten in der Gefahrenzonen liegen. Dagegen hat es sich als zu riskant erwiesen, Verletzte zu evakuieren. Kritische Fälle werden deshalb trotz ständig drohender Angriffe direkt vor Ort behandelt.

Es ist besonders erschütternd, wenn man verletzte Kinder behandeln muss. Dabei überkommt einen ein unerträgliches Gefühl von Ohnmacht. Da gab es einen Luftangriff, der neun Menschen getötet hat, darunter fünf Angehörige einer Familie: einen Vater und vier seiner Kinder. Eines war nur wenige Wochen alt. Als es in die Klinik gebracht wurde, war es noch am Leben. Der kleine Körper des Mädchens war von Granatsplittern ganz entstellt. Für mich war es besonders schlimm, weil ich selbst ein einjähriges Kind habe. Wir sind es ja gewohnt, bei der Arbeit tragische Fälle wie Amputationen und Schädelbrüche zu erleben. Aber angesichts eines leidenden Kindes zerreißt es einem das Herz. 

Gekappte Versorgungsrouten

Schon länger ist es extrem schwierig, Medikamente zu beschaffen. Heute ist das fast unmöglich. Die üblichen Routen für die Lieferung von Medikamenten sind komplett abgeschnitten, z. B. die Straße von hier nach Homs. Wir sind nun von einer schwer befahrbaren Route abhängig, die nach Norden führt. Unsere Hoffnung ist, dass wir die Versorgung mit Medikamenten dadurch aufrecht erhalten können.

Wegen der Vielzahl chirurgischer Eingriffe gehen uns die Anästhetika aus, außerdem auch Verbandsmull, Desinfektionsmittel, Antibiotika und entzündungshemmende Medikamente. Die Kliniken in den belagerten Gebieten um Homs haben Notfallpläne entwickelt, falls ihnen die Medikamente ausgehen.

Alarmierende Ernährungssituation

Ohne die Unterstützung von Ärzte ohne Grenzen müssten mehrere Kliniken in den ländlichen Gebieten nördlich von Homs den Betrieb einstellen. Die medizinische Versorgung der Menschen ist dank der Organisation zumindest notdürftig gewährleistet. In anderen Bereichen ist jedoch viel mehr Unterstützung nötig. Die Ernährungssituation ist alarmierend. Es fehlt an Nahrungsmitteln und Babymilch. Die Organisationen vor Ort sind nicht in der Lage, den Bedarf abzudecken.

Die Armut der Menschen wird immer größer und damit auch ihre Hilflosigkeit. Es bleibt ihnen nichts weiter übrig, als all das zu erdulden. Diejenigen, die Geld haben, konnten fliehen. All jene, die es sich nicht leisten können, müssen bleiben. Es gibt einige Leute, die so stark mit ihrem Heimatland Syrien verwurzelt sind, dass sie niemals gehen würden. Ich bleibe, weil ich mein Volk nicht im Stich lassen kann.