Zentralafrikanische Republik: „Ohne medizinische Hilfe würden unsere Kinder wie tote Blätter vom Baum fallen“

28.04.2015
Ein Jahr nach dem bewaffneten Raubüberfall auf ein Krankenhaus in Boguila berichten Menschen von der heutigen Situation vor Ort - denn der Zugang zu medizinischer Hilfe ist wichtiger denn je.
Healthcare in Boguila, Central African Republic
Giorgio Contessi/MSF
Christelle, 19, rests with her baby girl, who is just a few hours old, in the maternity ward at the MSF-supported health centre in Boguila. Alongside them is MSF midwife Rachel Ndoyan, herself a mother of six, who helped at the birth.

19 Menschen, darunter drei Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen, wurden am 26. April 2014 bei einem bewaffneten Raubüberfall auf ein Krankenhaus der Hilfsorganisation in Boguila in der Zentralafrikanischen Republik getötet. Trotz anhaltenden Unsicherheit und Gewalt ist eines unserer Teams vor Ort, um sich dort weiterhin um die Menschen zu kümmern. Unmittelbar nach der Tragödie hatten wir beschlossen, unsere Tätigkeiten einzuschränken.

Unsere Einrichtung ist nun eher ein Gesundheitszentrum als ein Krankenhaus, wo zentralafrikanische Teams Sprechstunden anbieten für schwangere Frauen, für Impfungen und Behandlungen bei Malaria, Mangelernährung, HIV und Tuberkulose (TB). Die medizinische Versorgung der Menschen ist in einem Gebiet, in dem es keine anderen Möglichkeiten dafür gibt, wichtiger denn je. Wie geht es den Menschen heute, ein Jahr nach dem schrecklichen Ereignis?

Es ist ein normaler Freitagmorgen in dem von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Gesundheitszentrum in Boguila im Norden der Zentralafrikanischen Republik. Christelle, 19, kam früh am Morgen hier an und brachte um 9:30 Uhr ohne Komplikationen ein Kind zur Welt. Das Baby – ihr zweites – ist ein gesundes Mädchen, das 3 Kilogramm wiegt. Gegen Mittag können Mutter und Kind wieder nach Hause zurückkehren, nachdem die Kleine zuvor die üblichen Impfungen erhalten hat. Allerdings werden beide regelmäßig zur Nachsorge wieder hier vorbeikommen.

Christelle ist eine von fast 90 Frauen, die in den ersten zwei Monaten dieses Jahres in diesem Zentrum entbunden haben. Sie lebt ganz in der Nähe, in der Stadt Boguila. Aber viele Schwangere müssen einen längeren Weg auf sich nehmen, um zu entbinden oder Hilfe zu erhalten bei Blutungen oder Infektionen, die sich nach einer komplizierten Hausgeburt einstellen. Sie kommen mit dem Fahrrad, dem Motorrad oder zu Fuß – sogar nachts und manchmal aus 50 km Entfernung. 

„Eine Geburt bringt Schmerz mit sich, aber auch großes Glück“

„Frauen leiden sehr. Eine Geburt bringt Schmerz mit sich, aber auch großes Glück“, sagt Rachel Ndoyan, Hebamme und Mutter von sechs Kindern. „Ich kämpfe gemeinsam mit Ärzte ohne Grenzen gegen die Sterblichkeit in Boguila. Das Wichtigste ist, dass wir die medizinische Versorgung kostenlos gewähren.“ Im selben Krankenhaus kamen vor einem Jahr 19 Menschen ums Leben. Aber das Leben siegt. 

 „Malaria ist das Hauptproblem, vor allem bei Kindern: Die Hälfte unserer Patienten, bei denen der Test positiv ausfiel, sind unter fünf“, sagt Elysée Tando, der das Gesundheitszentrum leitet. „Infektionen der Atemwege sind ein weiteres gängiges Problem, ebenso wie Parasiten und Durchfallerkrankungen unter den jüngeren Patienten. Die Menschen verbringen viel Zeit bei der Ernte auf den Feldern oder halten sich aus Angst vor Gewalt im Busch auf – mit Folgen für ihre Gesundheit. Manchmal haben sie sogar Angst, sich zu uns auf den Weg zu machen.“

Immer wenn das Gerücht eines bewaffneten Angriffs herumgeht, geraten alle in Panik: Patienten und Patientinnen fliehen zusammen mit den Teams in den Busch, um sich zu verstecken. Die Unsicherheit schränkt die Bewegungsfreiheit der Teams von Ärzte ohne Grenzen in Boguila ebenso wie in vielen anderen Gegenden des Landes ein und erschwert es uns, den Menschen in ihren Verstecken zu helfen. Ärzte ohne Grenzen sucht daher nach anderen Lösungen für die medizinische Versorgung der Menschen in den abseits gelegenen Gebieten. In Boguila selbst und in vier Gesundheitsposten in der Umgebung versuchen medizinisch ausgebildete Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Malaria schon in der Frühphase der Krankheit zu erkennen. Von hier aus werden die schwersten Fälle in das nächste Krankenhaus überwiesen, das von uns in Paoua geführt wird – zwei Stunden Fahrzeit entfernt.

Ärzte ohne Grenzen ist seit 2007 in Boguila tätig. 2014 führte das Team 194.157 medizinische Untersuchungen durch (mehr als 80 Prozent davon zu Malaria) und half bei 453 Entbindungen.

Die Hilfsorganisation ist seit 1997 in der Zentralafrikanischen Republik aktiv und beschäftigt zurzeit über 300 internationale und mehr als 2.000 zentralafrikanische Mitarbeiter in dem Land. Als Reaktion auf die Krise wurden die medizinischen Projekte seit Dezember 2013 verdoppelt. Derzeit laufen rund 20 Projekte, darunter einige für zentralafrikanische Flüchtlinge, die in Nachbarländern wie dem Tschad, Kamerun und der Demokratischen Republik Kongo Schutz gesucht haben.

Stimmen aus Boguila

Lois, 37, Hilfskrankenschwester, seit 2009 bei Ärzte ohne Grenzen

„Der Tag, an dem das Krankenhaus überfallen wurde, war schrecklich. Es war der schlimmste Tag meines Lebens. Ich war noch zu Hause und wollte mich gerade auf den Weg zur Arbeit machen, als ich einige Autos in Boguila ankommen sah. Später hörte ich dann die Schüsse. Wenn ich jetzt laute Geräusche höre, gerate ich in Angst und Schrecken und will nur noch fliehen. Ich bin in den vergangenen Monaten schon mehrmals weggelaufen, wenn das Gerücht herumging, dass Bewaffnete auf dem Wege in die Stadt seien. Auch musste ich mich schon mit Arbeitskollegen einige Stunden in den Busch flüchten. Es ist sehr schwer, unter diesen Bedingungen zu arbeiten. Aber die Menschen brauchen dringend medizinische Versorgung und Ärzte ohne Grenzen ist die einige Organisation, die das anbietet. Viele Patienten kommen zu uns, darunter zahlreiche Kinder. Ohne die medizinische Versorgung von Ärzte ohne Grenzen in Boguila würden unsere Kinder wie tote Blätter von den Bäumen fallen.“

Gladice, 35, Hebammenhelferin, seit 2006 bei Ärzte ohne Grenzen

„Als der Überfall geschah, machte ich gerade Pause in einem Haus in der Nähe des Krankenhauses. Die Schüsse wurden lauter und immer mehr. Ich hatte so große Angst – ich dachte, das sei das Ende. Wir blieben 45 Minuten lang auf dem Boden. Erst, als es ruhig wurde, konnten wir hinausgehen, um zu sehen, was passiert war. Auf dem Weg dorthin erzählte uns ein Kollege vom Tod eines anderen Kollegen und bat uns, nach den Verwundeten zu sehen. Wir brachten drei von denen, die noch am Leben waren, zur Behandlung auf die Station. Ich arbeite weiter mit Ärzte ohne Grenzen, um meinen Landsleuten zu helfen, die so dringend medizinisch versorgt werden müssen.”  

Ghislain-Serge, 37, Labortechniker, seit 2006 bei Ärzte ohne Grenzen

„Einer der getöteten Kollegen war mein Freund. Ich blieb zwei Tage, um das Labor zu organisieren, ehe ich wieder nach Bangui zurückkehrte. Dort lebt meine Familie, darunter meine Geschwister und Cousins und Cousinen. An dem Tag, als ich in Bangui ankam, wurde auf meinem Heimweg ein Mann ganz in meiner Nähe auf der Straße getötet. Mein Cousin meinte, es sei nicht anders als das, was ich in Boguila erlebt habe. Gewalt ist überall. Nach dem Überfall hatte ich nicht vor, bei Ärzte ohne Grenzen aufzuhören. Aber ich dachte über die Gefahren nach und darüber, ob ich bereit bin, diese weiterhin auf mich zu nehmen. Ich kam zu dem Schluss, dass jeder in meinem Land in Gefahr ist. Ich kannte Leute, die als Folge von Kämpfen gestorben sind und andere, die als Folge von fehlenden Medikamenten und fehlender ärztlicher Versorgung das Leben verloren haben. Ich möchte weiter bei Ärzte ohne Grenzen arbeiten. Dabei kann ich mich beruflich weiterentwickeln und den Menschen in meinem Land, die ohne die Hilfsorganisation keinerlei medizinische Versorgung hätten, helfen.“